Montag, 9. Februar 2015

Aus dem Land der Freien und Tapferen




Zu den Dingen, die man kennen muss, um die Vereinigten Staaten von Amerika zu verstehen, gehört offenbar neben dem Football, der Nationalhymne und der Route 66 auch das Buch "Wer die Nachtigall stört" (To Kill a Mockingbird) der heute 88jährigen Südstaatenautorin Harper Lee.  Das 1960 erschienene und wenig später prominent verfilmte Buch gehört zu den Klassikern der modernen amerikanischen Literatur. So wurde es 2001 in der Aktion „Eine Stadt liest ein Buch" über 70.000 mal in Chicago ausgelegt und gelesen.


Das Buch ist den Herzen vieler Millionen Amerikanern nah, auch wenn es am linken und rechten Rand der Gesellschaft durchaus einige Feinde hat. Den Konservativen ist es in seiner Kritik der Rassentrennung zu streng und nicht genügend patriotisch gesinnt, die Liberalen dagegen stößt es genau umgekehrt mit der manchmal distanzlos wirkenden Übernahme einer rassistischen Sprache ab, etwa mit dem beständigen Gebrauch des Wortes Nigger. Aber einer breiten Mitte dient das Buch als Weg, sich mit dem Herzen Amerikas zu verbinden.
Wo liegt dieses Herz? Geographisch liegt es im tiefen Süden der Vereinigten Staaten, im Bundesstaat Alabama, etwa eine Autostunde von der Küste des Golfs von Mexiko entfernt. Es liegt in einer kleinen Stadt, in der die Menschen seit Generationen unverändert leben und von daher für ihre Nachbarn in allen ihren Handlungen klar vorhersehbar sind. Das Herz liegt 1935, dem Jahr, in dem das Buch spielt, aber auch in einem Gebiet, in dem man nichts daran findet, dass eine weiße Unterschicht von Slumbewohnern sich jeglicher Art von Kultur, besonders der Schulbildung entzieht und sich dabei trotzdem immer noch über die schwarzen Nachbarn, Nachkommen der hier bis vor 75 Jahren vorhandenen Sklaven, im Ansehen erhebt.
Harper Lee
Mir als Europäer scheint das Besondere an diesen irritierenden Verhältnissen zu sein, dass sie nicht zu Aufständen und Revolutionen führen, nicht einmal zur Gründung einer sozialistischen Partei. Die zentrale Figur, der wunderbar menschliche Anwalt Atticus Finch, setzt sich zwar mit aller Kraft für die Verteidigung des ungerecht angeklagten Schwarzen Tom Robinson ein, bleibt aber für mich eigenartig melancholisch-gleichgültig, wenn ihm sein Kampf am Ende nur unvollkommen gelingt.
In Europa würde man unter solchen Verhältnissen Mitglied der kommunistischen Partei werden, in Lateinamerika Guerilla. In den Vereinigten Staaten dagegen führt man sein Leben in Kenntnis der Abgründe um einen herum weiter, in vornehmer Würde, hohem Anstand und mit einem guten Schuss von trockenem Humor.
Die Dramatik der Geschichte wird von einer Familie aus den Slums der weißen Unterschicht angetrieben: deren Tochter versucht den verheirateten schwarzen Tom zu verführen und täuscht eine Vergewaltigung vor, als dieser ihr nicht zu Willen ist. Tom Robinson wird angeklagt und wird trotz aller Bemühungen des juristisch äußerst geschickten Atticus von den Geschworenen eines Bezirksgerichtes schuldig gesprochen. Er stirbt - von der Vergeblichkeit eines Berufungsverfahrens überzeugt, das ihn von der drohenden Todesstrafe retten könnte - beim Fluchtversuch aus dem Gefängnis.
Der Belastungszeuge aus den Slums, Bob Ewell, den Atticus vor Gericht lächerlich gemacht hatte, will sich an Atticus rächen und überfällt dessen Kinder, die aber auf wundersame Weise von einem Einzelgänger gerettet werden, von dem das Dorf bislang angenommen hatte, er existiere nur als Gespenst.
So wie der Vater Atticus sehr viel Anstand und Würde auch gegenüber einer weißen Jury verkörpert, die zu feige ist, das offenkundige Unrecht aufzuhalten, das dem schwarzen Angeklagten geschieht, so werden sich viele Amerikaner selbst gesehen haben. Sie waren vielleicht ebenso wie Atticus mit den Lebensumständen in ihrer Umwelt nicht immer einverstanden, aber sie konnten darauf halten, dass in ihrem eigenen kleinen Lebensbereich ein untadeliges moralischen Niveau herrschte.

Humanität ist das Licht, das einzelne Menschen ausstrahlen, unabhängig vom Zustand des Gemeinwesens, in dem sie leben. Es gibt - entgegen einem typisch europäischen Urteil - schließlich doch ein "wahres Leben im Falschen". Es gibt dieses Leben, und es gibt es gerade im Falschen.
Atticus ist ein Witwer, der seine beiden Kinder mit einer gewissen Strenge aber dann wiederum auch auf eine recht freizügige Art erzieht - er lässt sich von ihnen beim Vornamen rufen -  und der sich als perfekter Humanist jederzeit in die Lage aller Menschen hineinversetzen kann, auch in die der der primitiven Slumbewohner. Das macht ihn zu einem innerlich freien Mann, der auch dann nicht verzweifelt, wenn er seinem gegen die Ungerechtigkeiten aufbegehrenden zwölfjährigen Sohn sagen muss, dass es vielleicht noch Generationen dauern wird, bis sich die Zustände verbessert haben werden.
Das Geheimnis seiner inneren Ruhe entdeckt man am Ende im Titel des Buches, es ist im Kern ästhetischer Natur: man stört die Nachtigall nicht oder, wie es im englischen Titel heißt, man tötet keinen "Mockingbird", keine Spottdrossel. Beides sind Vögel, die wunderschön singen. Zwar darf man in den Vereinigten Staaten eigentlich auf alles schießen, was sich bewegt, aber solche Vögel sind davon ausgenommen. Sie lehren uns eine absichtslose Schönheit, und wer davon einmal etwas verstanden hat,  schafft in seinem Herzen einen inneren Freiraum, von dem sich am Ende alle äußere Freiheit herleitet.
So gehört das Buch mit seinem warmherzigen Humanismus ganz fest zum Land der Freien und Tapferen, dem land of the free and home of the bave. Ich habe es sehr gerne gelesen.

 

 

 

 

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Du fühlst Dich mit sehr viel Verständnis in das Wesen Amerikas ein, selbst habe ich daran, muß ich zugeben, ein wenig die Lust verloren. Den Film habe ich so in Erinnerung, als habe Atticus das Schlimmste noch verhindern können, aber vielleicht täusche ich mich.