Folgt man
Thomas Bauers Kapitel über "Die Ambiguität der Lust“, dann hat die
westliche Kultur sich im Mittelalter ein enges Korsett angelegt, was die Lust
betrifft, und hat es später nicht mehr ablegen können, als nach der Kirche die
Medizin das Thema zu kontrollieren begann. Am Anfang gab es die fromme Spannung
zwischen sündhafter Lust und der kühlen Pflicht zur Fortpflanzung. Später schuf
die Medizin mit ihrer „Deutungshoheit über das, was ‚Sexualität‘ hieß“ neue
Spannungen. Bauer blickt kritisch vom Osten aus auf den Westen und meldet Zweifel
an, ob es einen geschlossenen Bereich der menschlichen Natur, der
"Sexualität" heißt, überhaupt gibt. Er schreibt dazu:
Niemand käme
etwa auf die Idee, Trauer, Freude, Opernbegeisterung und Pollenallergie als
Phänomene eines einzigen, klar abgrenzbaren Bereichs der menschlichen Natur zu
betrachten, nur weil sie gleichermaßen die Aktivität der Tränendrüsen auslösen
können. Im Falle der Sexualität geht man aber wie selbstverständlich davon aus,
dass ein zärtlicher Kuss und Vergewaltigungen im Krieg ein und dem selben
Bereich der menschlichen Natur zuzuordnen sind. Tatsächlich ist
"Sexualität" aber ein modernes, westliches Konzept, dass erst im 19.
Jahrhundert aufgekommen ist.
Bauer sagt:
der orientalische Mensch hat, bevor er dem modernen westlichen Gedankengut
begegnet, Sex ohne Sexualität. Wer ohne einen allumfassenden Begriff von Sexualität
lebt, kann warmherzige Freundschaften von Mann zu Mann zulassen, die mit
intimen körperlichen Gesten unterstrichen werden. Er würde nie sagen, dass die
so ausgedrückte Freundschaft in dem Sinne "sexuell" ist, dass sie
Ähnlichkeit mit der Liebe zwischen Mann und Frau hätte. Erst das westliche Verständnis
von Sexualität als einem alle Regungen in gleicher Weise antreibenden Motor
setzt körperliche Berührungen zwischen Männern der Anschauung aus, es handle
sich um Homosexualität. Es wird streng zwischen "hetero" und
"homo" unterschieden, was aber nur dann nötig ist, wenn Sexualität als
ein großer Motivationskomplex verstanden wird, dessen Kraft überall wirkt und
vom Menschen nur in verschiedene Richtungen gelenkt werden kann.
Bauer dagegen
zeichnet ein Bild von Kulturen, die einen himmelweiten Unterschied machen zwischen
der Liebe zwischen Mann und Frau und dem sinnlichen Reiz, der etwa vom Körper
eines Halbwüchsigen oder eines Kindes ausgeht. Beides ist nicht dasselbe,
weshalb auch Kinder in solchen Kulturen vielfach klar vor Missbrauch geschützt
sind.
Ich weiß
nicht, ob Bauer in allem Recht hat. Er zeigt aber deutlich einige Argumente auf,
welche die sittliche Überlegenheit in Frage stellen, die der Westen beständig gegenüber
dem Osten behauptet hat. Napoleon etwa hat bei seiner militärischen Kampagne
gegen Ägypten gesagt, er wolle das Land von den Türken befreien, die Ägypten in
Dekadenz und Barbarei geführt hätten.
Ein Rest von
diesem zivilisatorischen Überlegenheitsgefühl ist immer noch dann zu spüren,
wenn ein westliches Urteil über das Tragen von Kopftüchern gefällt wird. Hier
kommt unser westliches Verständnis von „Sexualität“ zur Geltung und konkurriert
mit der ganz anderen Art, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen zu
bestimmen, die in östlichen Kulturen herrscht.
Was die
angebliche Strenge des Islam bei sittlichen Verfehlungen betrifft, so behauptet
Bauer, es habe in den islamischen Ländern des Mittelalters kein einziges
Todesurteil wegen Ehebruchs gegeben. Das entsprechende Gesetz bestand zwar,
aber es verlangte das Zeugnis von insgesamt vier Personen. Kaum jemand aber sündigt
vor einer solchen Schar von Menschen.
Hier kommt
Ambiguität als Gnadenmittel zur Geltung. Ähnlich ist es bei Jesus, der
ebenfalls das Todesurteil über eine Ehebrecherin nicht aufhebt, die Strafe aber
mangels geeigneter Vollzugspersonen nicht vollstreckt. „Wer ohne Sünde ist,
werfe des ersten Stein.“ Und niemand ist da.
Die Welt
braucht Menschen mit einem Sinn für Ambiguität.
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