Samstag, 24. Januar 2015

Ambiguität und die Auslegung von Texten

Eine erste Lehre aus der Lektüre des schönen Buches vonThomas Bauer ist die, dass jede Übersetzung aus einem ursprünglichen Text immer wieder an Stellen kommt, wo man eine in den Text schneidende Entscheidung treffen, ein weitgreifendes Urteil fällen muss.

Für die Muslime des Mittelalters war klar: jede Übersetzung aus dem Arabischen war ein urteilender Kommentar. Sie gab vor, eine bestimmte Stelle verstanden zu haben, und zwar auf die Weise, wie sie in der neuen Sprache zu verstehen war. Einen Kommentar zum Koran zu erstellen war zunächst einmal aber eine sehr kunstvolle und abwägende Sache, wie es Thomas Bauer anhand der Kommentierung von Q 5:3 Euch ist Verendetes verboten aufzeigt. In vielen kleinen Schritten wird zu dieser Stelle die Frage geklärt, ob man denn etwa die Haut von verendeten Tieren zur Erzeugung von Leder benutzen darf oder nicht.


Für die Ausleger und Rechtsgutachter des Korans und seiner Zusätze (Hadithe) war klar, dass der Koran mit seinen vielfältigen Ambiguitäten fast ohne Grenzen ausgelegt werden konnte – und gerade deshalb nicht kongenial zu übersetzen war. Jede Übersetzung war eine die Ambiguität aufhebende und einseitige Festlegung.
Ich wurde an ein großes Ambiguitäts-Rätsel im Alten Testamentes erinnert. Es lautet: wer sind die anawim, die elend-sanftmütigen bzw. demütig-armen Menschen? Die erste große Übersetzung des hebräischen Urtextes, die etwa 200 v. Chr. entstandene griechische “Septuaginta“ hat hier mit einem radikalen Schnitt die herrschende Ambiguität aufgehoben und einen Teil der anawim-Stellen mit „arm / elend“ und den anderen Teil mit „sanftmütig / demütig“ übersetzt. Nur der Urtext lässt den Leser in einem unbestimmten Raum zwischen den beiden Begriffen.

Mose mit den Gesetzestafeln
Unser modernes Denken ist auf Eindeutigkeit ausgerichtet und stört sich an Ambiguität. Aber sind wir sicher, dass wir mit unserem Entweder/Oder der Wahrheit wirklich näher kommen? War Mose, der größte der anawim  (4. Mose 12:3), besonders geplagt oder war er besonders demütig? Die Bearbeiter der Lutherbibel haben sich in den 500 Jahren ihrer Geschichte mal für die eine und mal für die andere Version entschieden.
Aber kann man nicht beides gleichzeitig lesen und einmal seine auf scharfe Eindeutigkeit eingerichteten Hörwerkzeuge ein wenig weicher einstellen? Die Rede von den anawim ist sehr wichtig. Sie sind es offenkundig, mit denen Gott sein zukünftiges Reich bauen will. Ihnen müssen wir nacheifern, wenn wir Bürger in diesem Reich werden wollen.

Es ist bemerkenswert, dass Jesus in der Bergpredigt die Ambiguität aufhebt und sie in gewisser Weise neu einführt: die Elenden werden in der ersten Seligpreisung erwähnt (als die Armen des Geistes) und die Sanftmütigen in der dritten. Arme und Sanftmütige werden Besitzer von Himmel und Erde sein, Bürger des zukünftigen Friedensreiches Gottes. 
Um über sie nachzudenken, muss man wohl sehr viel Ambiguität aushalten. Ich bin dankbar und ein wenig erstaunt, dass ich diese Weisheit ausgerechnet in einem Kommentar zum Koran gefunden habe.

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