Für die Muslime des Mittelalters war klar: jede Übersetzung
aus dem Arabischen war ein urteilender Kommentar. Sie gab vor, eine bestimmte
Stelle verstanden zu haben, und zwar auf die Weise, wie sie in der neuen Sprache
zu verstehen war. Einen Kommentar zum Koran zu erstellen war zunächst einmal aber
eine sehr kunstvolle und abwägende Sache, wie es Thomas Bauer anhand der
Kommentierung von Q 5:3 Euch ist Verendetes verboten aufzeigt. In vielen
kleinen Schritten wird zu dieser Stelle die Frage geklärt, ob man denn etwa die
Haut von verendeten Tieren zur Erzeugung von Leder benutzen darf oder nicht.
Für die Ausleger und Rechtsgutachter des Korans und seiner
Zusätze (Hadithe) war klar, dass der Koran mit seinen vielfältigen Ambiguitäten
fast ohne Grenzen ausgelegt werden konnte – und gerade deshalb nicht kongenial zu
übersetzen war. Jede Übersetzung war eine die Ambiguität aufhebende und einseitige Festlegung.
Ich wurde an ein großes Ambiguitäts-Rätsel
im Alten Testamentes erinnert. Es lautet: wer sind die anawim, die elend-sanftmütigen bzw. demütig-armen Menschen? Die erste große
Übersetzung des hebräischen Urtextes, die etwa 200 v. Chr. entstandene griechische “Septuaginta“ hat hier
mit einem radikalen Schnitt die herrschende Ambiguität aufgehoben
und einen Teil der anawim-Stellen mit „arm / elend“ und den anderen Teil mit „sanftmütig
/ demütig“ übersetzt. Nur der Urtext lässt den Leser in einem unbestimmten Raum
zwischen den beiden Begriffen.Mose mit den Gesetzestafeln |
Unser modernes Denken ist auf Eindeutigkeit ausgerichtet und
stört sich an Ambiguität. Aber sind wir sicher, dass wir mit unserem Entweder/Oder der Wahrheit wirklich näher kommen? War Mose, der größte der anawim
(4. Mose 12:3), besonders geplagt oder war er besonders demütig? Die
Bearbeiter der Lutherbibel haben sich in den 500 Jahren ihrer Geschichte mal
für die eine und mal für die andere Version entschieden.
Aber kann man nicht beides gleichzeitig lesen und einmal
seine auf scharfe Eindeutigkeit eingerichteten Hörwerkzeuge ein wenig weicher einstellen?
Die Rede von den anawim ist sehr wichtig.
Sie sind es offenkundig, mit denen Gott sein zukünftiges Reich bauen will. Ihnen
müssen wir nacheifern, wenn wir Bürger in diesem Reich werden wollen.
Es ist bemerkenswert, dass Jesus in der Bergpredigt die
Ambiguität aufhebt und sie in gewisser Weise neu einführt: die Elenden werden
in der ersten Seligpreisung erwähnt (als die Armen des Geistes) und die Sanftmütigen
in der dritten. Arme und Sanftmütige werden Besitzer von Himmel und Erde sein, Bürger des
zukünftigen Friedensreiches Gottes.
Um über sie nachzudenken, muss man wohl sehr viel Ambiguität
aushalten. Ich bin dankbar und ein wenig erstaunt, dass ich diese Weisheit
ausgerechnet in einem Kommentar zum Koran gefunden habe.
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