Dienstag, 5. Mai 2015

Weil ich Jesu Schäflein bin


Kim Strübind gewidmet, der dieses Lied seiner kleinen Tochter beigebracht hat

Mein Vater
Ich sehe meinen Vater vor mir, wie er nach dem Abendessen seinen fünf halbwüchsigen Kindern noch einmal einen grundsätzlichen Gedanken mitteilt. Mein Vater liebte grundsätzliche Gedanken, und er liebte sie besonders, wenn sie von ihm selbst stammten und er sie vor einem größeren Kreis von Zuhörern vortragen konnte.


An diesem Abend ging es um den grundsätzlichen Unterschied zwischen früher und heute. "Früher", sagte der Vater, "sangen die Leute solche Lieder wie" – und dann machte er eine Kunstpause, um danach in einem langsamen und getragenen Ton die Worte aufzusagen:
"Weil ich  J e s u  Schäflein bin
f r e u  ich mich nur  i m m e r hin
über meinen  g u t e n  Hirten
der mich  w o h l  weiß zu bewirten"

Jesu Schäflein

Er machte, von seinem eigenen Vortrag sichtlich angerührt, eine weitere Pause und fuhr dann fort, „Heute dagegen“ – der Vater strich sich sein sauber nach hinten gekämmtes Haar mit einem Ruck in die Stirn und nahm die Haltung eines Protestsängers, wie es sie in den sechziger Jahren vielfach gab, ein – „singen die Leute“ – und nun sang er wirklich, eine einfache grobe Melodie auf nur zwei Töne:

„Herr ....
ich bin ein Ver-sa-ger ....
ich habe Pro-ble-me ....“
und schaute dabei unter den in die Stirn fallenden Haaren so mitleiderregend in die Welt, dass man Erbarmen haben konnte.

Als nächstes erinnere ich mich daran, dass meine 15-jährige Schwester Traudi, die sich in dieser Zeit darum bemühte, mit ihrer Gitarre ein wenig frische  Musik in die Gemeindegruppen von Sonntagschule und Jungschar zu bringen, wutentbrannt aus dem Zimmer lief, mit hochrotem Gesicht. Sie und ihre Musik hatte der Vater treffen wollen, und es war ihm vollkommen gelungen.
Ich war damals auf der Seite meiner Schwester. Mehr als 40 Jahre später, bin ich mir nicht mehr so sicher. Wenn Kim Strübind heute das Lied vom Schäflein seiner kleinen Tochter vorsingt, dann hat am Ende wohl mein Vater gewonnen.

 

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