Die Frage,
ob man Gottes Gnade nur durch gute Werke gewinnen kann oder nur durch den
Glauben, spaltet die Christenheit in zwei große Gruppen: die Katholiken und die
Protestanten. Für die Muslime unter meinen Lesern muss ich vielleicht
erläuternd sagen, dass der Reformator Martin Luther (1483-1546) als junger
Mönch in seinem Herzen von der Frage bewegt war "Wie finde ich einen
gnädigen Gott?" Er hat eine radikal einseitige Antwort gefunden: "Allein
durch den Glauben". Damit hat er sich von der „Werkgerechtigkeit“
abgesetzt, die er damals in seiner alten katholischen Kirche vorfand und gegen
die er fortan in scharfen Worten gepredigt hat.
Martin Luther |
Das Thema
der Werkgerechtigkeit ist auch im Dialog zwischen Muslimen und Christen von
großer Bedeutung. Auch ohne nähere Kenntnisse über Luthers Lehre vom Glauben
und von der Gnade wissen die meisten Muslime aus Gesprächen in der Schule oder
am Arbeitsplatz, dass in Luthers Gedankengebäude einer der wichtigsten Gründe enthalten
ist, warum viele Christen den Islam ablehnen. Er erscheint ihnen nämlich ganz
im Sinne von Luthers Kritik an den Katholiken ebenfalls eine Religion zu sein,
in der einzig die guten Werke eine Rolle spielen. Protestanten, „Evangelische“,
finden keine Spur eines gnädigen Gottes im Glauben der Muslime.
Meiner
Meinung nach ist dies ein ungenaues Vorurteil. Aber ich lasse die Frage, ob es richtig
oder falsch ist, einmal beiseite und berichte von einem modernen Problem, das
sich neu zu der alten Frage nach dem gnädigen Gott hinzugesellt hat. Das
Problem besteht darin, dass die modernen Menschen diese Frage gar nicht mehr
stellen. Sie bewegt sie schon lange nicht mehr.
Moderne
Menschen fragen erst einmal nach der Beweisbarkeit der Existenz Gottes. Die
meisten von ihnen sind vermutlich überwiegend zu der Überzeugung gekommen, dass
es keine Beweise gibt. Sie fragen dann aber trotzdem weiter und setzen eine
große, neue Bewegung in Gang, die statt nach der äußeren Beweisbarkeit lieber nach
der inneren Erfahrbarkeit Gottes fragt.
Um Gott zu
erfahren, gehen moderne Menschen oft erstaunlich weite Wege. Sie brechen zu langen
Pilgerwanderungen auf und suchen in den entlegensten heiligen Orten und Klöstern
nach einer Begegnung mit dem Göttlichen.
Hielte man
sie an und fragte sie danach, ob sie nicht in den alten Fehler der „Werkgerechtigkeit“
verfallen, den Martin Luther doch längst überwunden hat, würden sie vermutlich
ungläubig lächeln. Sie würden davon erzählen, wie jede Begegnung und jede
Erfahrung voraussetzt, dass man sich auf sie zu bewegt, sich auf den Weg macht.
Ihre Botschaft ist: man kommt nicht zu Gott, wenn man in seinem Sessel sitzen
bleibt und "Allein durch den Glauben" Gott zu finden versucht.
An dieser
Stelle mache ich einen Sprung und behaupte, dass mein Freund Nureddin, der sich
jedes Jahr aufs Neue auf den Fastenmonat Ramadan freut (der in diesem Jahr am
18. Juni beginnt), auch zu diesen Pilgern und spirituellen Gottessuchern gehört.
Er sagt mir sehr glaubwürdig, dass er in der schmerzlichen Askese dieses
Monats, in dem besonders der Verzicht auf das Trinken eine wirkliche
Geduldsprobe ist, Gott immer wieder ein Stück näher kommt. Er empfindet diese Nähe
zu Gott als ein großes Glück. Ob es ein „Werk“ ist, was er tut? Vielleicht ist
es das. Nureddin räumt weg, räumt auf, kommt zum Wesentlichen, das ist sein Werk.
Schriftzug "Mohammed" |
Nureddin
sagt, dass er anderen Leuten diese Nähe zu Gott ebenfalls wünscht. Er hat
einmal seinen Arm um meine Schulter gelegt und mir gesagt, dass er für eine
besondere Begegnung betet, die ich mit Gott haben soll. Dabei hat er nicht als
Missionar gesprochen, der mir den Weg zu einer solchen Begegnung über den Islam
vermitteln will. Er hat es mir als Christ gewünscht, in meinem eigenen Glaubens-
und Erlebenszusammenhang. Er kennt meinen Glauben, respektiert ihn, ja, hat
offenbar Freude daran..
Ihm wünsche
ich heute einen schönen, gesegneten Ramadan. Das ist der Hauptgrund, warum ich
dies alles schreibe. Und meinen christlichen und agnostischen und atheistischen
Lesern wünsche ich eine Begegnung mit Gott. Wenn man dazu die Wanderschuhe
anziehen und eine Reihe von schmerzhaften Werken tun muss, dann soll es eben so
sein, Martin Luther hin, Martin Luther her.
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