Er steht auf beim Gesang der Vögel
(Prediger 12, 4*)
(Prediger 12, 4*)
Nach einer Reihe von Gesprächen mit Leuten im Alter über Siebzig bin
ich zu einigen Überlegungen gekommen, was meine mit dem Älterwerden zunehmenden
Schlafstörungen betrifft. Als erstes habe ich im
Internet gefunden, dass viele Kulturen den unruhigen Schlaf kennen und ihn für
normal halten. Auch im Deutschen gibt es ja das Wort vom "ersten
Schlaf", also von einer Periode, die recht frühzeitig unterbrochen wird Man
findet Berichte, dass Menschen in vielen Teilen der Welt die Nacht
in wenigstens zwei Phasen teilen, die sie als den ersten und zweiten Schlaf
erleben.
In der Pause zwischen beiden Teilen steht man offenbar auf und beschäftigt sich. Ich hörte von einem schlafgestörten Mann im Vorkriegs-Westpreußen, der nachts im Dorf spazieren ging und dabei auf eine ganze Reihe von
anderen Nachtwandlern stieß, die sich fröhlich trafen und angeregt unterhielten. Bei einem Anthropologen las ich, dass er eine Zeit lang bei einem
Urwaldstamm in Indonesien verbracht hat, der aus Furcht vor wilden Tieren
gemeinsam in einer zentralen Hütte schlief - das ganze Dorf in einem einzigen
großen Raum. Hier waren viele Menschen mit mehreren Schlafphasen versammelt, es
war immer unruhig, aber es störte
niemand, wenn andere sich nachts unterhielten, sich Tee kochten oder anderen
Beschäftigungen nachgingen.
Offenbar ist unsere europäische Idealvorstellung von einem gleichmäßig
tiefen siebenstündigen Schlaf, der erst durch das Klingeln des Weckers beendet
wird, anderen Kulturen fremd.
Wenn man eingesehen hat, dass ein geteilter Schlaf keine
Krankheit ist, kann man sich intensiver mit dem zweiten Problem beschäftigen:
was soll man in der Pause zwischen dem ersten und zweiten Schlaf tun? Den
meisten Menschen wird es ähnlich wie mir gehen, dass sie die in dieser Phase
aufkommenden Nachtgedanken als störend empfinden. Man wünscht sich, recht bald
wieder einschlafen zu können, und glaubt auch, dass dies gelingen könnte - wenn
nur diese dunklen Gedanken nicht wären! Wer sie nicht kontrollieren kann, wird
bald feststellen, dass sie immer finsterer und pessimistischer werden. In einer
fatalen Kette von Assoziationen werden die Probleme des Tages größer,
erscheinen plötzlich oft sogar als unlösbar. Die Sorgen um die täglichen Dinge
werden zu schweren Lasten, Pessimismus macht sich breit, der Glaube an das, was
man am hellen Tag als Gewissheit in sich trägt, wird klein und erscheint manchmal als eine
fehlgeleitete Illusion.
Der amerikanische Autor David Foster Wallace, der an
schweren Depressionen litt (er starb 2008 letztlich daran, indem er sich das
Leben nahm), hat davon geschrieben, dass Menschen in Situationen kommen, in
denen sie sich selbst als eine Fälschung, einen fake, ansehen und in der Angst leben, dass man von
den anderen als ein solcher entdeckt - to be found out - und
bloßgestellt wird. Dieser Gedanke erscheint mir der Urgrund und die Mutter
aller nächtlichen Sorgen zu sein.
In den Gesprächen mit meinen älteren Freunden sind mir
verschiedene Lösungsmöglichkeiten für die Überwindung der Nachtgedanken genannt worden. Zwei Männer erzählten mir
davon, dass sie gelernt haben zu meditieren. Andere nutzen diese Phase um
aufzustehen (mit aufrechtem Oberkörper denkt man anders!), umherzugehen, vielleicht ein Buch zu lesen oder einen Brief zu schreiben. Wieder andere
hören Musik . Dies alles erscheinen mir Wege zu sein, um die Fülle der Gedanken
einigermaßen einzudämmen und am Ende nur die guten Gedanken zuzulassen.
Der Autor Ernst Jünger, der ebenfalls schlaflose und sogar
depressive Phasen in seinem Leben gekannt hat, schrieb am Tage seines 79.
Geburtstags in sein Tagebuch, Bin jetzt neunundsiebzig Jahre
alt, dabei voll von Ideen, auch lästigen, überhaupt zu jeder Stunde im Kopf
eine Assoziationsmühle. Er ist bis ins hohe Alter produktiv geblieben und
hat aus den lästigen Gedanken und den mühlenhaften Assoziationen immer wieder wunderbare
kleine Notizen gemacht, mit denen er seine Leser erfreut hat. Sie haben seine
Tagebücher oft mehr geschätzt als seine Erzählungen.
Vielleicht liegt ein möglicher Lösungspunkt darin, dass man innerlich zu schreiben beginnt. Am
Ende kommt vielleicht ein Tagebuch heraus, oder zumindest so etwas wie ein
Facebook-Eintrag. Wenn es
hilft, to make it through the night, ist es gut.
* in der alten Elberfelder-Übersetzung, die mir ein
91jähriger Mann zitierte und sagte, in diesen Versen würde das Leben der alten
Leute beschrieben.
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