Vor vielen Jahren habe ich einmal die Predigt eines jungen Pastors gehört, die mir wegen einer besonderen Auslegung in Erinnerung geblieben ist. Der Pastor sprach über das bekannte "Freuet euch in dem Herrn allewege" in Philipper 4,4 und über den danach folgenden Vers 5 "Eure Güte lasst kund sein allen Menschen! Der Herr ist nahe!"
Bemerkenswerterweise hatte der junge Mann zur Erklärung des Verses 5 die älteste Lutherübersetzung herangezogen und gefunden, dass dort geschrieben steht "Eure Lindigkeit lasset kund seyn allen Menschen!" Das schöne Wort Lindigkeit ist heute nicht mehr geläufig und ist deshalb in den neueren Lutherübersetzungen durch Güte ersetzt worden. Der Pastor stellte uns aber noch einmal das alte Wort lebhaft vor Augen, indem er das Gegenbild eines finsteren apokalyptischen Propheten dagegen setzte, der mit "Der Herr ist nahe!" das Ende der Welt heraufbeschwört und dann in den dunkelsten Farben predigt. Wir dürfen in der Erwartung des nahen Herrns eine gaz anderer Weise an den Tag legen.
Ich bin später immer wieder gerne auf diesen Vers gestoßen und habe jetzt in einem neueren Kommentar des Jesuiten Norbert Baumert* das Wort des griechischen Urtextes epieikes erklärt gefunden. Das Wort kommt offenbar schon bei Homer vor und bezeichnet ein Verhalten, das angemessen und maßvoll ist. Baumert schreibt: "Es ist verwandt mit dem, was man heute 'Epikie' nennt, obgleich nicht identisch. Es meint hier: nach außen keinen Anstoß geben, also unnötige Reibungsflächen vermeiden! Es meint ein gewisses Geschick und Feingefühl für die Umgebung, dass man also abschätzen kann, was man den jeweiligen anderen zumuten kann und muss, und was nicht."
Mich interessierte im Anschluss die Bedeutung des mir zunächst unbekannten Wortes Epikie, und ich fand im Internet viele philosophische Abhandlungen über den Gebrauch dieses Wortes - von Plato angefangen, über Aristoteles bis in die neue Zeit. Das Wort hat auch in unser modernes Recht Einzug gefunden, indem den Bürgern in der Anwendung des jeweiligen Rechtes häufig ein "billiges Ermessen" zugestanden wird.
Viel diskutiert worden ist die Frage, ob ein solches Ermessen eher eine Schwäche des Gesetzes ist weil durch das Gesetz nicht alle Bereiche abgedeckt werden können, oder ob es eine Stärke darstellt, weil ein Mensch, der sich an die Gesetze hält, am Ende von sich aus das Richtige tun kann, auch wenn er im Einzelfall kein Gesetz zur Hand hat.
Wie auch immer – die Beschäftigung mit dem Wort epieikes / Epikie öffnet ein weites Feld für die Begegnung mit anderen Menschen. Christen sollen so leben dass sie (Baumert) in ihren Umgang etwas haben, "das uns aufhorchen lässt; sie sind anders, aber sie provozieren nicht und sind nicht aufdringlich, überheben sich nicht, sondern haben Ehrfurcht vor den anderen, kurz: sie strahlen Freude und Frieden aus."
Lasst uns Lindigkeit neu entdecken!
* Norbert Baumert, Der Weg des Trauens, Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper, 2009
1 Kommentar:
Interessant!
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