Dienstag, 16. April 2019
Bekehrungserlebnis in Notre Dame
Unweit des Altars in Notre-Dame ist eine Steinfliese in den Boden eingelassen, welche an die Bekehrung des Schriftstellers Paul Claudel in der Weihnachtsnacht 1886 erinnert. Claudel war damals als junger Skeptiker in die Kirche gekommen, lediglich auf der Suche nach etwas Romanstoff und hatte dann unter dem Eindruck des Chorgesangs "Magnificat" ein mystisches Erlebnis, das ihn für immer veränderte.
Vor mehr als 20 Jahren habe ich mich bei einem Besuch in der Kirche ganz vermessen und gleichzeitig sehr ungläubig auf diese Steinplatte gestellt und habe dabei so ein wenig gehofft, dass mein altes und gewohnheitsmäßiges Christentum an dieser Stelle ebenfalls eine Erneuerung erfahren könnte. Diese Änderung ist nicht eingetreten, damals nicht und auch bis heute nicht. Aber ich kann mich an ein kleines Erlebnis erinnern, das doch ein wenig Licht in mein Leben gebracht hat.
Ohne dass wir Touristen, meine Frau und ich, es bemerkt hatten, bereitete man am Tag unseres Besuches einen festlichen Gottesdienst vor, der wenig später dann auch mit dem feierlichen Einzug einer Reihe von Geistlichen in bunten Talaren begann. Sie trugen in einer würdevollen Prozession die damals als Revision neu herausgegebene Bibel "Traduction œcuménique de la Bible" nach vorne zum Altar.
Ein Protestant war dabei, ein orthodoxer Priester und als Vertreter der katholischen Kirche der damals amtierende jüdischstämmige Kardinal Lustiger (1926 bis 2007), Erzbischof von Paris. Der Gottesdienst war sehr eindrucksvoll, besonders die warmherzigen und vollkommen frei und ohne Konzept gesprochenen Schlussworte des Kardinals, die mich wie so oft bei ähnlichen Gelegenheiten neidisch darauf machten, kein Katholik zu sein.
Was mich aber innerlich am stärksten anrührte, war der Gesang eines jungen Priesters noch vor dem Gottesdienst, der mit der Gemeinde ein Lied einübte, das auf die Melodie "We Shall Overcome" mit einem französischen Text unterlegt war "Nous marchons vers l’unité", wir schreiten auf die Einheit zu.
Man hatte hier aber nicht nur den Text verändert, sondern auch die Melodie. Statt des drängenden, im amerikanischen Original auf ein starkes Ziel hinarbeitenden Tonartwechsels auf die Dominante (in dem strahlenden we shall overcome o n e d a y) blieb die französische Melodie in der unveränderten Grundtonart und sank, statt strahlend in die Höhe zugehen, wieder ruhig auf den Grundton zurück, gerade als ob sie mit dem Erreichten bereits zufrieden sei und keinen Sturm und keinen Drang mehr benötigte.
Das alles erschien mir sehr einfach und friedlich zu sein, was durch die warme männliche Stimme des Priesters noch unterstrichen wurde. Der Gesang erreichte mein Herz, auch ganz ohne Mystik. Ich bin mit dem Eindruck aus der Kirche gegangen, dass es Lebensphasen gibt, in denen aller Kampf und Streit aufhört und die Seligkeit beginnt, die jeder verspürt, der im Herzen bereits die Einheit gesehen und sich daran erfreut hat.
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