Sonntag, 21. Juli 2019

Das Göttliche im Nächsten


 Die Bruderliebe bleibe! 
Die Gastfreundschaft vergesst nicht!
Denn dadurch haben einige, ohne es zu wissen, Engel beherbergt. 
(Hebräer 13, 1 und 2)


Ich möchte heute über Gastfreundschaft sprechen. Mein Wunsch und meine Hoffnung ist es, dass wir am Ende gemeinsam nach Hause gehen und den Glauben an die Engel in unserem Herzen befestigt haben, die uns immer wieder einmal erwarten, wenn wir Gäste einladen.

 Meine persönliche Geschichte mit diesem Bibelwort geht über mehr als 60 Jahre zurück in die Zeit, als im Hause meiner Eltern am Tisch über Gäste gesprochen wurde. Mein Vater lud sehr gerne und immer mit großem Enthusiasmus fremde Menschen ein, hatte dann aber oft mit dem Widerstand meiner Mutter zu kämpfen, denen die Gäste Arbeit und Mühe machten. Mein Vater nahm zur Verteidigung seiner Einladungen dann dieses Bibelwort aus Hebräer 13 zur Hand. „Mutter“, sagte er, „einige haben, ohne es zu wissen, Engel beherbergt“, und er meinte damit die oft sehr eigenartigen Menschen, die mein Vater mitbrachte, manchmal von der Straße.

Ich weiß noch, dass meine fromme und gutherzige Mutter beim Hören dieses Wortes mit den Augen rollte und irgendetwas sagte wie "ja ja, du sagst das immer so".


Griechische Worte

Es hat mir Freude gemacht, in der Vorbereitung auf diese Predigt einmal mehr über die griechischen Worte zu erfahren, die im Original des Hebräerbriefes stehen. Es sind zwei ähnliche Worte - philadelphia für die Bruderliebe und philoxenia für die Gastfreundschaft.

Wir kennen die Silbe phil aus einer Reihe von auch im Deutschen gebräuchlichen Worten. Der Philosoph liebt Sophia die Weisheit, der Francophile liebt Frankreich und die Franzosen, und so liebt der Mensch, der Philadelphia übt, den Bruder oder die Schwester, adelphos, das Wort bedeutet beides.

Was liebt der, der Philoxenia übt? Er liebt xenos, den Gast, den Fremden. Ich habe in der Vorbereitung versucht, im Lexikon, im Internet und im Gespräch mit fachkundigen Leuten die Doppeldeutigkeit dieses Wortes ein wenig aufzulösen. Es gibt ja einige Unterschiede zwischen Gästen und Fremden. Warum hatten die alten Griechen nur ein einziges Wort dafür?

Ich muss gestehen, dass ich es nicht weiß. Ich ahne wohl, dass hier ein Geheimnis verborgen ist, das Geheimnis einer anderen Denkweise, die ein anderes Bild von Fremden und von Gästen hat als wir.


 Im fremden Land

Das Alte Testament berichtet von einer Reihe von Schicksalen, in denen es um die Auswanderung in ein fremdes Land geht. Ganz zu Anfang der Geschichte des Volkes Israel steht die Erfahrung des Lebens in Ägypten, dem fremden Land schlechthin.

Und dann gibt es die Geschichte der Ruth, die aus dem Ausland nach Israel geholt wird, nachdem vorher eine israelische Familie aufgrund einer Hungersnot aus Bethlehem auswandern musste, nach Moab. Nun kommt die Moabiterin mit Ihrer Schwiegermutter zurück und hat ein schwieriges aber schließlich doch glückliches Einleben in Israel.

In ihr ist der fremde Engel sehr gut zu erkennen – sie wird am Ende sehr viel Segen für das Volk Israel bringen, sie wird die Urgroßmutter des Königs David.

Auch der verlorene Sohn, von dem Jesus erzählt, ist ein Fremder, ein Gast. Dass er sich ein paar Pfennig mit dem Hüten von Schweinen verdienen darf, das spricht nicht für eine hohe Gastfreundschaft seines Gastgebers, aber immerhin bekommt er einen Platz zugewiesen.


 Fremde und Gäste heute

An dieser Stelle will ich kurz einfügen, dass ich über eine Sache nichts Sicheres reden kann: über die Chancen, die Fremde und Gäste derzeit in unserem Land haben, hier dauerhaft Heimat zu finden.

Es ist klar, dass die vielen Fremden, die in den letzten Jahren in unser Land gekommen sind, auf Dauer Einheimische werden wollen. Damit sind sie in einem gewissen Zwischenzustand zwischen Fremden und Einheimischen. Ob sie wirklich Deutsche werden, ob also unsere Bundeskanzlerin Recht behalten wird mit ihrem "wir schaffen das", dazu habe ich keine prophetischen Erkenntnisse.

Ich bete dafür, dass wir es schaffen, aber ich will denen nicht den Mund verbieten, die ihre Skepsis zum Ausdruck bringen.

Was ich allerdings zeugnishaft sagen kann, ist, dass ich unter den mittlerweile fast 200 Fremden, die in den letzten drei Jahren unsere Remscheider Gemeinde besucht haben, immer wieder einmal den Eindruck gehabt habe, es seien Engel darunter. Jedenfalls bin ich mir mit vielen hunderttausenden einheimischen Helfern, Christen und Nichtchristen, Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Motivation, darüber einig, dass wir immer wieder in den Strömen von Flüchtlingen das Bild einzelner Menschen vor Augen gehabt haben und gesehen haben, dass sie Geschöpfe Gottes sind. Das macht sie noch nicht zu Engeln, aber es macht sie zum Gegenstand unserer Liebe.

Es ist sehr schön zu erleben, wenn man irgendwo erzählt, dass man eine Begegnung mit Flüchtlingen gehabt hat und dann feststellt, der Gesprächspartner hat genau dasselbe erlebt. Er hat auch "seinen" Syrer, seinen Iraner, seinen Afghanen. Ob es jemals eine Geschichte geben wird, die alle diese einzelnen Begegnungen erzählt, weiß ich nicht. Aber ich kann denen sagen, die skeptisch sind in Bezug auf "wir schaffen das": es ist ein Glück, solchen Menschen zu begegnen und Ihnen ein kleines bisschen auf dem Weg helfen zu können, hier bei uns Wurzeln zu schlagen.


 Tolstoi

Anrührend ist die Geschichte, die viele von uns vielleicht als Bilderbuchgeschichte kennen vom Schuster Martyn, die Tolstoi erzählt hat. Der Schuster hört im Traum die Verheißung, dass am nächsten Tag Gott bei ihm zu Besuch kommen wird, und er sitzt schon am frühen Morgen gespannt in seiner kleinen Schuster-Werkstatt und späht auf seinem Kellerfenster hinaus auf die Straße, ob er irgendetwas auffälliges bemerkt.

Aber es geschieht nichts. Es geschieht nur das übliche, ein alter Nachbar in schlechten Kleidern braucht etwas Wärme, er bekommt beim Schuster Martyn einen Tee und auch einen zweiten. Eine Soldatenfrau mit ihrem Kind ist ungenügend gekleidet, auch hier hilft der Schuster. Und ein Ladendieb und die von ihm bestohlene Händlerin streiten sich vor dem Fenster des Schusters und werden entschädigt und versöhnt.

Nur Gott kommt nicht, und der Schuster liegt sich am Abend etwas enttäuscht schlafen.

Aber dann erscheinen ihm geisterhaft die Personen noch einmal, die er am Tag gesehen hat, und eine innere Stimme sagt ihm: was du einen meiner geringsten Brüder getan hast, das hast du mir getan. Vater Martyn schlägt ergriffen seine Bibel auf und liest vom König des Weltgerichtes das Folgende:

Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen.[...] Dann werden ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? [...] Und der König wird antworten und zu ihnen sagen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.

Diese Jesus-Worte aus Matthäus 23 erklingen am Ende dieser Tolstoi-Geschichte. Sie sind ein weiteres großes und wichtiges Wort zur Gastfreundschaft


 Ernst Jünger

Ich möchte am Ende noch einmal auf die Skepsis meiner Mutter zurückgekommen von der ich am Anfang erzählt habe. Man spürt die Wärme, die aus einer Geschichte wie der von Tolstoi strömt, aber man kann sich auch dagegen wehren. Man kann sagen, dass es nicht unserer Erfahrung entspricht, Engel in unseren Häusern zu haben.

Aber geht dann nicht die Wärme verloren? Ist es uns nicht möglich, durch die vordergründigen Tatsachen hindurch zu schauen und am Ende doch das zu sehen, was Gott uns zeigen will? Im Hungrigen - Jesus? Im Bettler - das Ebenbild Gottes? Im Flüchtling - den besonderen Menschen, den Gott uns in seinem ewigen Plan vorstellen wollte?

Ich habe in der Vorbereitung für diese Predigt überraschend ein Wort gefunden, das von einem nicht besonders frommen Mann stammt. Der Schriftsteller Ernst Jünger, eher bekannt für seine Tagebücher aus Kriegszeiten, hat an einer Stelle geschrieben:

Nicht für die Gesellschaft da sein, sondern für den Nächsten, den einzelnen. Und was für ihn tun? Das Göttliche in ihm erkennen. Dann ordnet sich alles andere, die Gesellschaft auch.

Ob uns das gelingen kann, Gott in unserem Nächsten zu sehen? Ob wir es überhaupt einmal versuchen wollen?

Wir leben in einer entzauberten Welt, sagt man. Aber es liegt ein geheimer Zauber über den Geschichten der Bibel. Wir lesen, dass wir uns nicht mit dem zufrieden geben sollen, was vor unseren Augen ist. Es gibt eine andere Welt, die sich öffnet, wenn wir durch die Dinge hindurchsehen. Dann werden Fremde zu Boten Gottes und Gäste werden zu Engeln. Ich möchte uns einladen, sich auf diese Realität einzulassen.

Amen.

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