Montag, 14. September 2020

Mein Vater

Heute vor 100 Jahren wurde mein Vater Adolf Runkel geboren, am 14. September 1920 in Remscheid.

Er kam zusammen mit einem Zwillingsbruder zur Welt, zwei Monate zu früh. Die beiden winzigen Jungen mussten viele Wochen um ihr Überleben kämpfen, auf die Sitzfläche eines Sessels gebettet, je eine wärmende Weinflasche mit heißem Wasser gefüllt links und rechts, und eine in der Mitte. Die Kinder seien gerade einmal so groß gewesen wie die Flaschen erzählte uns später unsere Großmutter. Am Ende schaffte es nur der Vater, der kleine Bruder starb nach drei Monaten.

Einige
 Eigenarten meines Vaters habe ich auf seine verzärtelte Kindheit zurückgeführt, in welcher ihn seine Mutter sehr verwöhnt hat. Er blieb eher klein und schwach, war schnell satt (was er bis ins Alter beibehielt)  und mochte viele Dinge nicht essen. Für die Schule wurden ihm deshalb vorsorglich Schulbrote mitgegeben, die mit feinsten Tafeln von Eszet-Schokolade belegt waren. Was die Mutter nicht wusste: er mochte sie gar nicht und tauschte sie gegen die einfachen Leberwurstbrote seiner Klassenkameraden ein.

Er wurde nach seinem 1889 geborenen Vater Adolf genannt. Sein Zwillingsbruder hieß Hermann, so wie der mütterliche Großvater. Dass es in Österreich einen weiteren Adolf gab - bis auf wenige Tage gleich alt wie Adolf senior - war 1920 in Remscheid noch nicht bekannt.

Nach Hermanns Tod wurde zwei Jahre später ein weiterer Sohn geboren, der dann nochmals Hermann genannt wurde. Er wurde der stärkste und sportlichste der Familie und überlebte nach dem zweiten Weltkrieg vier Jahre harte russische Kriegsgefangenschaft.

Meine Großeltern mit ihren Söhnen
(von links) Adolf, Hermann und Johannes

Zusammen mit Hermann II, der nicht nur sportlich, sondern auch ehrgeizig war und sich zum Ärger meines Vaters immer zwei Bretter auflud, wenn er nur eines tragen wollte, hat er sein gesamtes Berufsleben verbracht, später auch mit dem dritten Bruder Johannes, der 1925 zur Familie kam. Ein 1929 geborener vierter Bruder, der nach dem väterlichen Großvater Christian genannt wurde, starb früh.

Mein Vater wurde – das Schulbrote tauschen als frühes Anzeichen – ein geselliger Mensch, der mit den unterschiedlichsten Zeitgenossen problemlos Kontakt pflegen konnte. Geprägt hat ihn hier auch seine lange Militärzeit unter teils sehr groben Kameraden, die 1938 mit dem Arbeitsdienst begann und im Juni 1945 mit der erfolgreichen Flucht aus russischer Kriegsgefangenschaft endete. Die Flucht, schwimmend über die Elbe und dann auf Irrwegen durch verbranntes Land nach Remscheid zurück, trat er zusammen mit einem Kölner Soldaten an, der sich als geschickter Kleinkrimineller herausstellte, was sich in einer Reihe von Situationen als fast lebensrettend erwies.

Mein Vater hat die Menschen Zeit seines Lebens danach beurteilt, wie sie sich wohl verhalten würden, wenn man einen Schützengraben mit ihnen teilen müsste.

Meiner Mutter hatte er 1943 einen Heiratsantrag gemacht, den sie aber ablehnte. Erst als am Ende des Krieges ein weiterer Heiratskandidat an der Front fiel, konnte mein Vater einen zweiten Antrag machen, der 1947 erhört wurde.

Mit der Heirat in die Familie meiner Mutter wurde er, der aus einer recht wohlhabenden Familie, aus dem "Besitzbürgertum", stammte,  nun mit einer Familie aus dem Bildungsbürgertum konfrontiert, an der er sich Zeit seines Lebens gerieben hat. Dort sei den ganzen Tag lang nur Bach gespielt worden, hat er sich später beklagt. Seine Lieblingsmusik war der Hohenfriedberger Marsch und, als er später ein wenig Trompete spielen lernte, Louis Armstrong.


Seine fünf Kinder, von denen ich das älteste war, haben seine Art, sich gerne in den Vordergrund zu spielen, oft nur schwer ertragen. Aber im Nachhinein freuten wir uns über die große Welt der Kontakte die er – sozusagen immer noch Schulbrote tauschend – für uns erschloss. Es gab keinen ausländischen Kellner, den er nicht gefragt hätte, was "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" in dessen Landessprache hieß. Die Inhaber des ältesten chinesischen Restaurants in Remscheid haben mir noch Jahre nach seinem Tod von ihm erzählt.

Überhaupt – die Geschichten der anderen Leute, die uns zum Teil mit großer Dankbarkeit Begebenheiten aus dem Leben unseres Vaters erzählten, haben uns nachträglich mit seinem oft belehrenden und auftrumpfenden Auftreten versöhnt.

Wenige Stunden nach seinem Tod am 21. September 1996 haben die versammelten Geschwister beim Kaffee gesessen und sich vorgestellt, wie er jetzt im Himmel sitzen und mit den Engeln Hebräisch reden wird.

"Reden?" sagte Schwester Traudi, "Er bringt es ihnen bei!"

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