Meine Mutter hat mein Leben getragen, nachdem sie es ja buchstäblich
aus sich selbst hervorgebracht hat. Sie hat auf eine kaum beschreibbare, aber
trotzdem immer reale Art und Weise ein Leben lang zu mir gehalten. Das galt
selbst dann, wenn es darum ging, einige unangenehme Dinge über mich
auszusprechen. „Der Schönste ist er nicht“, sagte sie etwa, wenn sie meine
dünnen und leicht fettenden Haare kämmte und meine pubertären Pickel
betrachtete. Sie blickte mich dabei aber so liebevoll an, dass mir klar wurde,
dass ich keine Hollywood-Schönheit sein musste, um in ihrem Herzen einen ewigen
Platz zu haben.
Dass ich ein guter Schüler war, hat sie nie besonders
erwähnt. Sie hat es als selbstverständlich, vorausgesetzt, nachdem sie selbst
mit vielen guten Zensuren gesegnet die Schule nach zehn Jahren verließ.
Besonders gut getan hat es ihr dabei, dass ihr älterer Bruder Adalbert für
ähnlich gute Zensuren viel länger arbeiten musste als sie. Der Bruder wurde
später Professor, aber die natürlichen Anlagen für eine solche Karriere schlummerten doch eher in ihr.
Wenn sie „nur“ eine Ausbildung zur Diätassistentin am
Krankenhaus machen durfte, dann lag es an der Armut des väterlichen Haushaltes,
der nur die Ausbildung eines einzigen Mitglieds finanzieren konnte. Ihr Vater,
Erwin Bohle, der nach einer gescheiterten Karriere als Einzelhändler seiner
eigentlichen Berufung folgte und mit fast 40 Jahren zum Baptistenprediger umschulte,
verdiente in diesem Beruf nur ein sehr bescheidenes Einkommen. Darunter litt am
meisten die aus großstädtischen Verhältnissen stammende Mutter Lina, die nie
müde wurde, von den schönen Konzerten der Berliner Philharmoniker zu erzählen,
die sie als junges Mädchen besucht hatte.
Über diese Mutter kam eine musikalische Kultur in die
Familie des Baptistenpredigers, die um ein Haar die Liebe meines Vaters zu
meiner Mutter gefährdet hätte. Mein Vater kam aus einem Handwerker-haushalt in
einen Pastorenhaushalt (so kann man sagen, auch wenn man die Baptistenprediger erst in späteren
Jahren „Pastoren“ nannte), das passte nicht. „Die haben den ganzen Tag nur Bach
hoch und runter gespielt“, erinnerte er sich später unwillig.
Die Ehe meiner Eltern kam erst 1948 zu Stande, nachdem meine
Mutter einen ersten Heiratsantrag meines Vaters noch zu Kriegszeiten abgelehnt
hatte. Damals war ein anderer Kandidat mit im Spiel, der aber in den letzten
Kriegstagen an der Front fiel. Sein Foto hat sie aufbewahrt und uns Kindern
immer wieder einmal gezeigt. Dieser ernste Mann mit den vielen guten Noten in
seinem Abitur hätte Euer Vater sein können.
Aus der Ehe meiner Eltern gingen fünf Kinder hervor. Nach
mir, dem ältesten, kamen innerhalb von acht Jahren noch drei Schwestern und ein
Bruder hinzu. Die Eltern haben mit dieser Kinderschar ein offenes Haus geführt,
zu dem jeder von uns ungefragt weitere Kinder einladen durfte, ohne dass meine
Mutter je über einen schwindenden Vorrat an Lebensmitteln geklagt hätte.
Es gehört sicherlich zum Glück meiner Jugend, dass meine
Mutter ein lebendiges Interesse an den vielen bunten Menschen zeigte, die meine
Geschwister und ich ins Haus brachten sie. Sie sprach recht gut Französisch,
behauptete aber, dass auch alle anderen Ausländer sie gut verstehen würden,
wenn sie nur langsam genug mit ihnen spräche. „Wollen - Sie - noch - etwas -
Suppe, Herr Moon?“ Und der angesprochene Koreaner nickte wie
selbstverständlich.
Gebetet hat sie mit uns, und Lieder gesungen am Bett. Wenn
sie die Grundlage meiner Existenz war und Gott die Grundlage unserer aller
Existenz, dann war das beides eine Selbstverständlichkeit, die sie mit einem
vertrauensvollen Herzen an uns weitergab.
Gebetet hat sie auch für uns und für viele andere Menschen,
still im Bett, jeden Morgen nach dem Aufwachen. Ich freue mich, dass meine Frau
diese Angewohnheit übernommen hat. Ich habe von der Mutter geerbt, mich an
Geburtstage zu erinnern, wozu ich allerdings schriftliche Tabellen brauche. Sie
hatte alles im Kopf und wachte morgens auf und sagte als erstes „heute hat
Günter Odau Geburtstag".
So lebt sie in meine Erinnerung weiter, und ihr freundliches
Lächeln ist im Prinzip das, mit dem ich bis zum Ende meines Lebens der Welt
begegnen möchte.
Am Wochenende treffen sich meine Geschwister und ich in ihrem Geburtstort Derschlag, einem Ortsteil von Gummersbach, und gehen nach einem Rundgang im Dorf zum Kaffeetrinken in die nahe Rengser Mühle, wo es die dick mit Eierschaum gefüllten Pfannkuchen gibt, wahlweise mit Zucker oder mit Speck. Unerklärlich war es der Mutter, wie der Koch den Eierschaum zwischen den unteren und den oberen Pfannkuchen hinein bekam, die beide fest miteinander verbacken waren..
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