Samstag, 29. Dezember 2007

Der Schwiegersören und die Großfamilie

 





Am ersten Weihnachtstag stößt auch Sören (hier im Bild mit Matthias) aus Bremen zu uns, Carolins Freund, der mit seiner Familie in Bremen Weihnachten gefeiert hat. Er wird freudig erwartet - von allen! - und verstärkt bald die Laptop-Fraktion.


Man schätzt ihn u.A. wegen seiner EDV-Kenntnisse. Er wird - das ist schon klar - das hausinterne Wireless Lan endlich mit einem Paßwort versehen und es gegen räuberisches Eindringen aus der Nachbarschaft sichern.

Franziska Sprzagala, die Patentochter, kommt zwischen zwei Konzerten mit den Bergischen Symphonikern kurz vorbei. Leider werden die Fotos des schönen Mädchens alle nichts, deshalb muß der Verweis auf die sehr gute Konzertkritik der lokalen Zeitung hier genügen.


Am zweiten Weihnachtstag dann fällt schließlich die gesamte Großfamilie Runkel ein - Schwester Sigrid mit Schwager Friedhelm und Familie sowie Schwiegerfreund Christian, Bruder Erwin Adolf (Brüdi, hier im Foto mit mir) mit zwei Söhnen (die beiden Töchter sind zum Skifahren weg) und Schwester Esther. Ein Topf mit 10 Litern Borschtsch nach einem uralten ukrainischen Rezept von Liese Warkentin macht sie alle satt, so daß später ein fröhliches Singen und Musizieren aus gut genährten Leibern ertönen kann.

Hier ein Rundumbild mit (fast) allen Gästen drauf.

Am 28. kommt auch Eva

 



Eva hat in der Schweiz die Eltern Ihres Freundes Manuel besucht und kommt am 28. an. Judith holt sie vom Flughafen Köln ab und bringt sie nach Wiedenest, wo Christianes Mutter samt Schwester, Schwager und deren Kinder und (Ur-)Enkelkinder besucht werden.

Eva hat ein Lied für Tina gemacht, das ich gerne hier zeigen möchte, ich kämpfe mit ihr um die Verwertungsrechte und darf das Lied am Ende nun also allen zeigen:



Am 29. kommt auch Oliver Barnett aus Köln, Sohn von unseren Freunden Robert und Caroline in England.

Er lebt seit einigen Monaten in Deutschland und möchte länger bleiben, weil es ihm hier gefällt. Der Junge weiß, was gut und richtig ist! Auch die Sprache hat er verblüffend schnell gelernt. Er ist uns ein willkommener und lieber Gast.

Dienstag, 25. Dezember 2007

Weihnachtsbotschaften

 


In unserer Lokalzeitung hat der katholische Stadtdechant zu Weihnachten eine kleine, freundliche Andacht geschrieben, wie man sie in diesen Tagen landauf, landab vermutlich in ähnlicher Form zu lesen oder hören bekommt. Gott kehrt an Weihnachten alle unsere Maßstäbe um, das ist der Inhalt der Botschaft.

Obwohl dagegen an sich nichts einzuwenden ist, liest man es trotzdem mit zwiespältigen Gefühlen. Man erinnert sich daran, daß man es ja leider immer und immer wieder gehört hat, sich aber nie wirklich entschließen konnte, nun seinerseits die eigenen Maßstäbe einer Prüfung zu unterziehen und zu ändern. Hoch und angesehen bleibt hoch und angesehen, und arm und dumm bleibt arm und dumm. Und man tut offenbar gut daran, sich zum Hohen hin zu orientieren, denn nur da gibt es die relative Sicherheit, die unsere immer auf wackligen Füßen stehende Existenz so dringend nötig hat.

Außerdem ist es fast eine Tautologie, daß Gott anders denkt und urteilt als wir. Er ist ja kein Mensch. Findet man sich nicht besser damit ab, ja kann man nicht sogar davon profitieren, daß es im Universum eine Alternative zu dem gibt, was wir denken und leben? Man freut sich ja auch über andere alternative Lebensformen, etwa der Ureinwohner ferner Inseln, deren Sitten und Gebräuche wie der Hauch eines exotischen Duftes zu uns kommen. Der Vergleich klingt vermessen, aber während ich das schreibe, fällt mir ein Weihnachtslied ein, das tatsächlich von der Umkehrung der Maßstäbe spricht und das alle diese Gedanken in eine zündende Melodie kleidet – aus der Karibik. Man singt es, wiegt mit den Hüften und möchte aus einem anderen Weihnachtslied anfügen: Eia, wär’n wir da! Und wir sind es nicht.

Nein, Weihnachten kehrt keine Maßstäbe um. Es kommt auch nicht plötzlich und unerklärlich und „senkrecht von oben“ wie Karl Barth es für Begegnungen mit dem Göttlichen gefordert hat. Es ist lange vorher angekündigt worden und hat eine jahrhundertelange Vorgeschichte, glücklicherweise.

Diese beginnt um die Zeit des Exils der Juden herum und wird durch Generationen hindurch von Juden getragen, welche die Knechtschaft und Unterdrückung ihres Volkes unter Assyrern, Persern, Griechen und Römern erdulden und dabei nie vergessen können, daß ihr Gott ihnen eigentlich die Beherrschung der ganzen Welt versprochen hatte. Sie erkennen nach und nach, daß Gott seine Macht nicht länger an den großen Hoffnungsträgern der jüdischen Geschichte erweist, Abraham, Mose, David, Salomo, sondern vielmehr an den kleinen, meist namenlosen Helden eines alltäglichen Glaubens, der nichts sieht, der aber trotzdem nie aufhört zu hoffen.

Zu diesen Juden spricht Jesaja um 600 v.Chr. und zeichnet ihnen mehr ahnend als wissend das Bild von einem leidenden Gottesknecht. Der trägt das Leid der anderen und hebt es auf, in ein neues Gottesreich hinein. Er findet „geknickte Rohre“ vor und „glimmende Dochte“ (Jesaja 42,3), und er macht keine eisernen Säulen aus ihnen und keine brennenden Feuer, sondern baut eine Gemeinschaft aus solchen, die das Leben eher elend wie ein Hiob erlebt haben und nicht glorreich wie der König Salomo.

In Jesajas Zeiten, den Zeiten des babylonischen Exils und danach, wächst ein neuer Glaube. Er hält den Gedanken an JHWH lebendig, aber erkennt in ihm einen Gott, der sich darin bewährt, daß er im Elend nahe ist und im Leid trösten kann, der damit viel mehr ist als nur ein Garant für fraglichen Wohlstand und wacklige politische Macht.

Die neue Weise, Gott im Dunkel des Lebens zu erfahren, erweist sich als stärker und überlebensfähiger als jeder Glaube davor und danach, weil er den blinden Optimismus, der in jedem Menschen steckt, überwindet und klar sieht, daß zu jedem Leben Verlust und Leid gehört. Jeder ist über Phasen seines Lebens ein Hiob.

Wenn dann 500 oder 600 lange Jahre später Jesus erscheint, ist das Feld für ihn durch Menschen bereitet, die diesen Glauben in sich tragen, die ihre Armut erkannt und sie bewußt angenommen haben. Im Jesus-Buch des Papstes ist nachzulesen, wie sich diese Menschen selbst als „die Armen Gottes“ erkennen und annehmen. Zu der Reihe entsprechender Attribute gehören Worte wie „die Armen der Barmherzigkeit“, „die Armen der Gnade“ – oder wie es Jesus dann in der Bergpredigt gesagt hat „die Armen des Geistes“. Die Menschen, die Jesus als erste an- und aufnehmen, stehen in dieser Tradition, seine Eltern an prominentester Stelle.

So kommt Jesus in Bethlehem an, über lange Jahre und Jahrhunderte ersehnt, erwartet und gekannt. Die Maßstäbe, die er umkehrt, sind schon lange vor seiner Zeit aufgehoben worden. Daß sie nicht tragen, diese alten Maßstäbe, war lange vor Jesus bekannt. Neu ist, daß man seit Weihnachten sehr viel fester daran glauben kann, daß es richtig war, sie zu verändern und das Leben tiefer und klarer zu sehen, in allen seinen hohen und tiefen Dimensionen.

Eva wird vermißt

 



Auf dem traditionellen Familienbild unterm Türrahmen fehlen an diesem Heiligen Abend Eva und Tina. Ihrer wird gedacht. Dort, wo sie normalerweise stehen, weisen heute die Tafeln "Schweiz" und "Peru" auf sie hin.


Einige Geschenke stehen in diesem Jahr unter dem Thema "Ägypten", weil Carolin dort zwischen Januar und April leben wird. Sie wird in Kairo ihre Diplomarbeit schreiben, über ein Entwicklungshilfeprojekt.



Matthias, der im März mit seinem neunmonatigen Wehrdienst fertig ist, wird Caro in Kairo besuchen, zusammen mit Judith. Sie bekommen Bauchtaschen geschenkt, zur Diebstahlsicherung. Matthias erhält außerdem den amtlichen Ägypten-Reiseführer für Backpacker, den es weltweit nur aus dem Verlag Lonely Planet gibt.


Christiane hat sich eine Erweiterung ihres Memoryrings um zwei weitere Steinchen gewünscht. Obwohl es in diesem Jahr keinen keinen konkreten Anlaß gab, sich zu erinnern, konnte ihr Wunsch erfüllt werden. Wir erinnern uns dankabr daran, daß wir noch das Leben haben. Und uns.


Matthias hat mir eine CD von Oscar Peterson geschenkt, Aufnahmen aus 1971, remastered. Der gute Junge hat klug gewählt. Eigenartiges Zusammentreffen: an diesem Abend erfahren wir vom Tod Petersons am 23.Dezember.


Später wird Musik gemacht. Judith und Caro singen, ich spiele Klavier und - große und seltene Ehre für uns alle - Matthias holt seinen Verstärker dazu und zupft schöne Töne auf seinem Baß.

 



Auch außerhalb der gemeinsam verbrachten Zeiten sind wir permanent untereinander verbunden - über das hausinterne drahtlose Computernetz. Es herrscht eine angenehme Stille, die nur durch das leise Klappern der Tastaturen unterbrochen wird. Manchmal bekommt man im Wohnzimmer sitzend eine eMail, die jemand aus dem Eßzimmer geschickt hat. So bleibt man im Gespräch.

Am Übergang vom 24. zum 25. Dezember wird schmerzhaft deutlich, daß unser Geburtstagskind Eva fehlt. Wir können uns an keinen Heiligen Abend erinnern, an dem wir nicht zusammen mit ihr in ihren Geburtstag gefeiert hätten. Nun ist sie mit Freund Manuel bei dessen Eltern in der Schweiz. Beim letzten Telefonat berichtete sie von einer Wanderung am Säntis. So etwas kann Remscheid natürlich nicht bieten.

Oscar Peterson gestorben

 


Ich fand im Internet diese Aufnahme eines Amateurs, der Petersons "Hymn to freedom" spielt. Ich finde, sie ist auf ihre Art ein schönes Kompliment an den Mann, der das Stück komponiert* und als erster gespielt hat. Er ist am 23. Dezember in Kanada gestorben, 82 Jahre alt,




* Irgendwo habe ich gelesen, ihm sei die Melodie für diese Martin Luther King und den Bürgerrechtlern der 60er Jahre gewidmete Hymne am Ende seiner Aufnahmen für die berühmte Platte "Night Train" spontan eingefallen, und er habe sie dann in einem einzigen "Take" aufgenommen. Ich habe tausend mal probiert, wenigstens einige der Variationen des Stückes halbwegs ordentlich nachzuspielen. Vergeblich.

Montag, 24. Dezember 2007

Heilig Abend: Christina ruft aus Cusco in Peru an

 


Tina ruft nachmittags von halbwegs zwischen dem Titicacasee und der Hauptstadt Lima, dem Endpunkt ihrer Reise, an. In der Nähe von Cusco liegt das berühmete Machu Picchu, zu dem sie morgen oder übermorgen aufsteigen will.


Hier ein früheres Bild von ihrer Zeit in Südamerika. Links mit Hut ist ein Lama, rechts ohne Hut Tina. (Vermutlich wird sie anrufen und sagen, sie habe meinen Blog gelesen und ich solle diesen Text jetzt sofort rausnehmen).

Wir haben einen kurzen Abschnitt aus dem Telefonat mit ihr aufgenommen:




Matthias ist von seinem 24-Stunden-Wachdienst bei der Bundeswehr zurück, er macht sich mit Judith, Carolin, Christiane und mir auf den Weg in die Christvesper.

"Muß man da Butterbrote mitbringen?" hat mein Vater immer spöttisch gefragt, nachdem in den 70er Jahren der schlichte Heilig-Abend-Gottesdienst bei uns in "Vesper" umbenannt wurde.

 



Pastor Leese (hier nach dem Gottesdienst mit unserem Ältesten Ralf Wentland) predigt über "Das Wichtigste ist das Kind", der Männerchor singt, Kinder musizieren mit ihren Vätern, es ist ein schöner Gottesdienst.

 



Hier ein Bild von der Bühne mit Tannenbaum und Männerchor, bei der Vesper in der Schützenstr.32 in Remscheid.

Sonntag, 23. Dezember 2007

Anton und andere Gäste

 




Mit dem zwei Monate alten Anton Burgtorf kommt am heutigen Nachmittag eine neue Klasse von Gästen in unser Haus, so eine Art von Enkelkindern. Antons Mutter Marei ist Judiths Freundin von Kindertagen an und Judith hat die Geburt des kleinen Frankfurters mit Spannung erwartet und seine ersten Tage und Wochen auf dieser Welt mit großer Sympathie begleitet.


Nun macht er seinen Antrittsbesuch bei uns, schlafend. Ich habe schon auf den ersten Fotos seine Ähnlichkeit mit Gustav Spelsberg, seinem Opa, festgestellt, finde sie jetzt bestätigt und rede ihn mit Gustav-Anton an. Uli und Marei, seine Eltern nehmen es mir nicht übel, der Opa ist allerdings auch ein wirklich lieber Mensch, und der Welt täte es gut, wenn noch mehr Gustavs in ihr herumliefen.


Judith ist ebenfalls am Nachmittag gekommen und erfreut das Herz des Väterchens mit ihrem frohen Wesen. Mit ihr kommt immer viel Musik, deshalb heißt sie auch das singende springende Löweneckerchen, ein Ehrentitel, der aber auch immer wieder mal den anderen Schwestern verliehen wird. Natürlich nur, wenn sie auch singen.


Carolin hat ihre Klassenkameradin Stefanie zu Besuch. Ihr hübsches italienisches Gesicht hat ein paar strenge Züge bekommen, die ihr aber nicht schlecht stehen. Sie ist seit Kurzen im Besitz zweier Staatsexamen und beginnt als Anwältin in Wuppertal. Die Kinder werden erwachsen. Sie siezt mich, und ich duze sie noch, aber mit schlechtem Gewissen.


Einen ersten kulinarischen Höhepunkt setzt Christiane mit der Käse-Sahne-Torte nach altem oberbergischen Rezept. Auch in diesem Jahr wird vermutlich aus der geplanten kontrollierten Reduktion des Gewichtes wieder nichts werden.

Kopf und Herz

 


Vor einigen Wochen ist in den USA ein Buch erschienen, welches sich mit der spannungsreichen Geschichte der amerikanischen Christen oder genauer zweier Gruppen daraus beschäftigt. Der Verfasser stellt sie als zwei Ausprägungen des dortigen Christentums vor. Die einen, zu denen er die Gründerväter der USA zählt, Washington, Jefferson, Madison, vertreten einen intellektuellen Glauben, einen Deismus, der vornehmlich den Kopf des Menschen anspricht, während die anderen zum Herzen reden und entsprechend eine eher pietistische Frömmigkeit vertreten, wie sie etwa Billy Graham und der gegenwärtige Präsident Georg Bush verkörpern. Das Buch hat den Titel Head and Heart, der Autor heißt Gary Wills.

Die Gründerväter und ihre Kopf-Fraktion haben in einem vorausschauenden Akt von Modernität die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung verankert und haben dadurch möglicherweise ihren Brüdern von der Herz-Fraktion entscheidend geholfen, den Glauben frei und unbeeinflußt zu leben. Umgekehrt haben die Herzensfrommen über lange Zeit die gesellschaftliche Stabilität garantiert, auf deren Grundlage sich ein Staat entwickeln konnte, der seinen Bürgern große Freiheiten gewährt, ohne in die Gefahr zu geraten, aufgrund seiner eigenen Widersprüche auseinander zu fallen.

Manchmal ist es gelungen, Kopf und Herz miteinander zu versöhnen. Gary Wills sieht gegenwärtig etwa in dem Präsidentschaftskandidaten Barak Obama einen, der für das eine wie das andere steht, für Kopf und für Herz. Meistens aber war es ein Entweder-Oder zwischen einem eher kühlen, sich im Alltagsleben kaum auswirkenden Vernunftglauben und einem born-again-Christentum, engagiert und lebendig zwar, aber ohne großes intellektuelles Fundament.

In Deutschland hat man in dieser Frage einen anderen Weg gefunden, ohne allerdings die Widersprüche durch eine Synthese beider Denkrichtungen wirklich beseitigen zu können. In gewisser Weise steht dafür das Schlüsselerlebnis des Theologen Schleiermacher am Anfang: er hat als junger Mann eine Zeit unter den pietistischen Herrnhutern gelebt und sich darum bemüht, ihren Herzensglauben zu übernehmen, zu seinem Leidwesen allerdngs vergeblich. Er hat sich dann um das Jahr 1787 herum mit den berühmten Worten von dieser Phase verabschiedet, er werde sich darum bemühen, ein "Herrnhuter höherer Ordnung" zu werden, also einer der den schlichten Herzensglauben transzendiert und ihn in wissenschaftliche Erkenntnis, Ästhetik und Kunst überführt.


Religion sei "Sinn und Geschmack für das Universum", dieses Wort hat Schleiermacher dann später vielen Generationen von Theologen mit auf den Weg gegeben. Sie haben in Deutschland etwas zumindest ansatzweise möglich gemacht, was eine Zeit lang wie das genaue Gegenteil der amerikanischen Verfassungswirklichkeit aussah, nämlich eine Durchdringung von Kirche und Staat. Diese speziell deutsche Konstruktion wurde im 19. Jahrhundert als "Kulturprotestantismus" geschichtliche Wirklichkeit und endete - so die allgemeine Theorie - mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Als Gipfel und gleichzeitig letzte Ursache des Scheiterns dieser Synthese von Kirche und Staat gilt seither die Rolle des berühmten Theologen Adolf von Harnack, der dem Kaiser vor 1914 geholfen hat, seine den Krieg vorbereitenden Reden zu schreiben.

Das alles sollte 1918 zu Ende sei. Der Schweizer Karl Barth kam und lehrte die deutschen Theologen eine "dialektische Theologie", die sie in einer ständigen Spannung zwischen der geglaubten, erhofften Gotteswirklichkeit und dem wirklichen Leben halten sollte. Daß Gott jemals in einem Staat, noch dazu in einem preußischen, seine Wirksamkeit entfalten würde, stand nicht mehr zur Diskussion.

So jedenfalls die offizielle Version.

Ich habe in diesem Jahr eine längere Abhandlung im Internet gefunden, die noch einmal, ebenfalls aus amerikanischer Sicht (der Autor, Mark Lilla, lehrt an der Columbia Universität), die innere Logik und die äußere Faszination des Gedankens eines "Kulturprotestantismus" herausstellt. Wenn man sich auf dessen System einläßt, dann ist der Gedanke nie ganz aus der Welt, daß gerade eine Theologie des Verstandes, also eine Theologie, welche Wunder ablehnt, die Hilfe Gottes in persönlichen Nöten kritisch sieht, das innige Gebet im stillen Kämmerlein und anderes mehr in Frage stellt, den Menschen immer wieder darauf verweisen muß, daß nur der Staat letztlich über sein Wohl und Wehe entscheidet und die Politik also unser Schicksal ist.

Und wenn Gott da ist, wo über unser Schicksal entschieden wird, und wenn dieser Ort der Sitz unserer Regierung ist, dann ist es immer neu unsere Aufgabe, zumindest dafür zu sorgen, daß die Grundsätze unseres Glaubens auch in den Programmen der Parteien festgeschreiben werden. Und immer neu lebt unsere Hoffnung auf, daß uns vernünftige Gesetze und eine vernünftige Regierung schließlich doch zu besseren Verhältnissen, wenn nicht gar zu einem kleinen neuen Jerusalem hier auf Erden führen werden. Die Erwartungen, die viele Leute in christliche Politiker wie Heinemann und Rau gesetzt haben, gingen in diese Richtung.

In diesem Sinn ist der "Kulturprotestantismus" weiterhin lebendig. Viele evangelische Predigten und Andachten, die ich in meinem Leben gehört habe, waren im Sinne einer staatstragenden Vernunftreligion gehalten und erwarteten oft mehr von vernünftigen politischen Entscheidungen als vom Eingreifen Gottes. Das meiste in diesen Predigten war in einem Ton gesagt, der sich der Verantwortung gegenüber dem Ganzen der Bundesrepublik Deutschland bewußt war, gerade so, als ob man alle Äußerungen der Kirche so halten sollte, daß sie beim Kultusministerium eingereicht dort lebhafte Zustimmung hervorrufen würden. Helmuth Schmidt hat es etwas anders aber in die gleiche Richtung gesagt: viele Pastoren predigten so, als ob sie im Feuilleton der "Zeit" veröffentlicht werden sollten

Ich möchte mich von diesen Bemühungen nicht leichten Herzens distanzieren. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse und die Zeiten addiere, in denen ich mit anderen darüber diskutiert habe, welche Maßnahmen die jeweilige Regierung zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen ergreifen sollte, und diese mit den Zeiten vergleiche, in denen ich etwa darüber geredet habe, wie man auf rechte Weise beten lernen kann, dann bin ich auch ein Kulturprotestant.

Gibt es einen Ausweg? Vermutlich hat es kaum jemand geschafft, diesen Post bis zu dieser Stelle hier zu lesen, deshalb kann ich in meinem Selbstgespräch zu einem etwas riskanten Thema kommen und noch anfügen, daß mich ein weiteres neues Buch* in diesem Jahr besonders angesprochen hat. Es übersetzt den ersten Korintherbrief neu und enthält dabei einige überraschende Passagen über das Zungenreden.

Paulus nennt es ein "Reden im Geist" und bringt es zusammen mit vielen anderen religiösen Phänomenen damit eigentlich erst einmal in den Bereich der geistigen Welt, also der Kopf-Fraktion, die ja aus geistig und intellektuell orientierten Menschen besteht. So sieht es zumindest der Autor, ein 75 Jahre alter katholischer Professor, der lange in Gemeinden gelebt hat, in denen solche "geistigen" oder "pneumatischen" Phänomene aufgetreten sind. Er schildert sie als helle Momente, in denen der Geist des Menschen in besonderer Weise auf Gott eingestellt ist, und in denen die Menschen Dinge erfahren, die bisher weder ihr eigener Verstand noch ihr eigenes Gefühl ihnen zu sagen imstande sind.

Nach meinem Eindruck knüpft Paulus mit seiner Lehre vom Pneuma hier an die alte hebräische Vorstellung von Seele als "Atem" an, gerade so, als ob es neben Kopf und Herz noch einen dritten Empfangseingang gibt, über den der Mensch wesentliche Dinge über Gott und sich selbst erfährt. Gott gibt ja in der Schöpfung den Menschen sein Leben, indem er ihm etwas von seinem Atem mitgibt. Wenn Luther die berühmte Stelle in Psalm 23 mit "du erquickest meine Seele" übersetzt, dann heißt es dort wörtlich "du bringst meine nefesch zurück", was gleichbedeutend mit Atem und Seele ist, aber einer Seele, die griechisch gesprochen näher an Pneuma als an Psyche ist.

So schließe ich in gewisser Weise die Gedanken dieses Jahres mit der Hoffnung ab, daß es neben Kopf und Herz noch etwas anderes gibt, über das Gott mit den Menschen reden kann, über das er mit mir reden kann. Daß er redet, neu redet, scheint mir in diesen Tagen dringender denn je zu sein.

* Norbert Baumert, Sorgen des Seelsorgers

Samstag, 22. Dezember 2007

Weihnachten kommt

 



 


Am Freitag sind die ersten Kinder hier in Remscheid eingetroffen, es werden in diesem Jahr "nur" drei von fünfen sein, davon später mehr.

 



Als erster kam Matthias, der Soldat, der allerdings von Sonntag auf Montag nochmal in die Kaserne nach Koblenz muß, weil er Wachdienst hat. Danach hat er bis ins Neue Jahr frei.

 



Wenig später kam dann auch Carolin aus Berlin. Sie soll ab Januar Ca-i-rolin heißen, weil sie ihre Diplomarbeit über ein Projekt in Kairo schreiben und dort im Lande Ägypten zwischen Januar und April dann auch wohnen wird.

 




Caro und der Vater erfreuen sich am Anblick ihrer jeweils neuen Brillen, das ist hoffentlich eine Meldung wert.

 



Sicherlich eine Meldung wert sind die Strümpfe, die Christiane für Caro strickt. In Ägypten kann es abends kalt werden, wurde uns gesagt. Da sucht der Ägypter händeringend nach Wollstrümpfen - und Caro lächelt wie die Sphinx, denn sie hat ja dann welche.

 



Den Tannenbaum zeigen wir später, er wurde erstmals in der Familiengeschichte frühzeitig geschmückt, "damit man länger was davon hat", wie Christiane, die praktisch Gesinnte, sagt.

 




Vielleicht dafür ein Rätselbild: wer kennt den hier abgebildeten Herrn?

Freitag, 21. Dezember 2007

Aus Den Haag II (Vermeer)

 



In der Ausstellung, von der ich vorgestern berichtet habe, war zu erfahren, daß in Vermeers "Gezicht op Delft" auch einiges an Politik stecken soll. Die Nieuwe Kerk in der rechten Bildhälfte (hier ein Ausschnitt aus dem Bild) sei bewußt ins Licht gerückt worden, während die linke Bildhälfte noch von einer abziehenden Regenwolke überschattet wird. Die Nieuwe Kerk sei wegen ihrer Bedeutung für das Königshaus mit besonderem Licht versehen worden. Sie ist in der Tat bis heute einer der größten Kirchen Hollands und außerdem die Begräbnisstätte des holländischen Königshauses. Zuletzt wurde Prinz Claus von Amsberg hier beigesetzt, in 2004.

Man liest solcherlei politische Theorien und erinnert sich an die tausendfach entfaltete Lehre vom Gleichklang von Poltik und Kunst, die von knarzenden Frauenstimmen, alle irgendwie von Sabine Christiansen ausgebildet, morgens zwischen sieben und acht auf WDR 3 verbreitet wird. Seitdem Napoleon zu Goethe gesagt hat, die Politik sei unser Schicksal, wird auch die Kunst der Politik untergeordnet.

Es fehlt einer wie Willy Brandt ("die Schule der Nation ist die Schule"), der uns wieder sagt "unser Schicksal ist das Schicksal". Lieben, geliebt werden, essen, trinken, schlafen, und - hat das nicht Mozart gesagt? - ein warmer Schiß. Das bildet die Grundlagen für ein persönliches Schicksal, auf das kein Minister je Einfluß gehabt hat.



Vom Standpunkt der Kunst aus gesehen ist die Entscheidung Vermeers, der Kirche das Sonnenlicht zu geben und über den Dächern links im Bild das Regenwasser ablaufen zu lassen, aus ganz anderen Gründen plausibel. Die Kirche leuchtet mit ihrem gelben Mauerwerk am schönsten bei heller Sonne, die Dächer dagegen glänzen wunderbar lachsfarben, wenn der Regen sie naß gemacht hat und das Licht ein wenig gedämpft auf sie fällt.

Was man über Vermeers Planungen für das Bild weiß, ist, daß er die Kirche sehr viel niedriger gemalt hat als sie es damals wirklich war (ein Blitz zerschlug später, 1872, die Spitze des Turmes, sie wurde durch eine noch höhere ersetzt, die heute 109 m mißt). Vermeer hat die Stadtsilhouette als ein recht gleichförmiges Band gemalt und hat dafür sowohl die vorhandenen Türme ein wenig gedrückt als auch das Stadttor rechts im Bild mit einer in der Realität nicht vorhandenen Biegung auf den Bildrand hin dargestellt. Natürlich hat nichts davon mit Politik zu tun.




Marcel Proust läßt seinen Dichter Bergotte beim Anblick des Bildes, das in einer Pariser Ausstellung hängt, sterben. Bergottes Blick hängt dabei an einer kleinen Mauer, rechts neben dem Stadttor, in der hellen Bildhälfte, ganz am Rand des Bildes. Seither kann sich Kunst auch an Mauerwerk messen.

Das Schwindelgefühl nahm zu; er heftete seine Blicke - wie ein Kind auf einen gelben Schmetterling, den es gern festhalten möchte - auf die kostbare kleine Mauerecke. 'So hätte ich schreiben sollen, sagte er sich. Meine letzten Bücher sind zu trocken, ich hätte mehr Farbe daran wenden, meine Sprache in sich selbst so kostbar machen sollen, wie diese kleine gelbe Mauerecke es ist.'

Rendre ma phrase en elle-même précieuse, comme ce petit pan de mur jaune.

Und dann stirbt er, mehrfach murmelnd "Petit pan de mur jaune avec un auvent, petit pan de mur jaune."

Kleine gelbe Mauerecke unter einem Dachvorsprung.

Mittwoch, 19. Dezember 2007

Aus Den Haag I (Rembrandt)



Einen Steinwurf vom Gericht entfernt, wo wir am 14.12.2007 um das Recht kämpfen mußten, das Ferienhaus unserer Großfamilie weiter als "tweede Woning" nutzen zu dürfen, liegt das berühmte Museum „Mauritshaus“, mit dem laut Marcel Proust schönsten Gemälde der Welt, Vermeers Stadtansicht von Delft, oben ist eine kleine Fotografie davon abgebildet. Wir finden angesichts eines in wenigen Wochen zu erwartenden negativen Urteils zumindest für die Augen Trost beim Besuch dieses wunderbaren Bildes, mit seinem Spiel von Licht und Schatten, Sonne und Regen.

Im Obergeschoß des Mauritshauses gibt es in diesen Tagen eine Sonderausstellung mit Porträtmalerei aus dem 17. Jahrhundert, der reichen und mächtigen Periode der Niederländer, ihrem „Gouden Eeuw“. Der Wohlstand und das Selbstbewußtsein der Menschen haben damals unter anderem auch die Porträtmalerei befördert und unzählige Bilder hervorgebracht.

Die erfolgreichsten Porträtisten dieser Zeit waren Rembrandt und Frans Hals, und wenn man vor dem lebendigen Bild eines älteren Kaufmanns und seiner Frau steht (ich füge einen Ausschnitt bei, der Kaufmann heißt Jan Rijcksen), das Rembrandt gerade so malt, als ob er die beiden mit seinem Erscheinen überrascht hat, dann kann man sich vorstellen, wie die Menschen erstaunt gewesen sind, sich von Rembrandt so lebensecht gemalt zu finden.

Einen Augenblick überlege ich, ob Jan Rijcksen mit seinem Konterfei einverstanden war. Man kann es vermuten. Sicher bin ich mir, daß die Kinder und Enkel der Familie Rijcksen nach des Ahnherren Tod das Bild angesehen und gesagt haben "das war er!"

Rembrandts Stil ist mir allerdings nach wie vor rätselhaft. Er ist oft so wenig fotografisch, so verwischt und in manchen Details so ungenau, manchmal so unscharf, daß einem die Bilder erscheinen, als betrachte man sie durch einen Schleier . Das Rätsel wird bei einigen Gemälden sogar noch größer, wenn man näher an sie herantritt und dann bestätigt findet, was man beim ersten Blick eher intuitiv erfaßt hat: Bildregionen mit präzisen Details wechseln sich ab mit anderen, die eher hingeworfen und mit der linken Hand ausgeführt erscheinen.

Zwei Bilder am Beginn der Ausstellung fallen besonders auf und geben schließlich doch einen Hinweis auf eine mögliche Lösung des Rätsels.

Das eine zeigt Rembrandt in einem kleinen Selbstporträt als jungen Mann, dessen Gesicht nur in wenigen Partien scharf und präzise gemalt ist, während sich die vom Betrachter aus gesehen rechte Gesichtshälfte und fast alle Haare in einem Bereich befinden, der entweder im Schatten liegt oder so verwischt wirkt wie Teile eines Fotos, die außerhalb des Bereichs der Tiefenschärfe liegen und daher nur schemenhaft zu erkennen sind.




Gleich neben dem Selbstporträt hängt ein größeres Bild, ebenfalls ein Selbstporträt, auf dem Rembrandt einen feinen Federhut trägt. Diesen Hut hat Rembrandt recht detailgenau gemalt. Die Figur darunter wendet sich über die Schulter dem Betrachter zu und blickt ihn ein wenig kritisch an, lebendig eingefangen in einer eher momentanen Pose, gerade so, als ob ihn auch hier der Betrachter überraschend angesprochen hat. Die Wiedergabe des Bildes hier ist ein wenig braunstichig, das Original ist in seinen Farben sehr viel besser.

Unter dem präzisen Federhut wirkt das Gesicht in manchen Partien wieder eigenartig ungenau. Der rotblonde Oberlippenbart hängt etwas ungeordnet über den Mund, und ich habe im Museum dreimal hingeschaut, um herauszufinden, ob man durch den Bart die Lippen sieht oder nicht, und ob sie vielleicht geöffnet sind, wie man je nach Blickwinkel meinen könnte. Wundersamerweise kann man das alles auch beim mehrfachen Hinsehen gar nicht wirklich feststellen, und das ein wenig kritische Gesicht des Gemalten scheint schließlich auch sagen zu wollen: nun guck mich nicht dauernd an, du weißt doch jetzt, wer ich bin!

Hier scheint mir ein Zugang zu Rembrandts Bildern zu liegen: sie wollen nicht wie eine Landkarte gesehen werden, deren Details man langsam und nach und nach studieren kann, sondern den lebendigen Eindruck so einfangen, wie er im Auge und im Gehirn eines Betrachters im Bruchteil einer Sekunde entsteht. Die Empfehlung für den Betrachter scheint zu sein: Hinsehen – und gleich wieder abwenden! Und man hat den ganzen Eindruck.

Natürlich darf man vor einem Rembrandtbild wie vor jedem anderen Bild lange stehen bleiben und es in seinen Einzelheiten betrachten. Jedes Bild der Welt will ja dazu einladen, genau gelesen zu werden. Aber was man bei Rembrandt dann erfährt, das sind möglicherweise weniger die Details aus dem Gesicht des Porträtierten, die Poren und Pickel, die man auf den ersten Blick nicht gesehen hat. Man lernt statt dessen, was dieser „erste Blick“ überhaupt ist, lernt etwas über das Sehen selbst – etwa ganz praktisch das Geheimnis der Tiefenschärfe, lange vor Entdeckung der optischen Gesetze – und über das Zusammenspiel von Auge, Gehirn und Herz, wenn sie alle gemeinsam diesen Moment des ersten Blicks erzeugen, der ein geniales Konzert aller beteiligten Sinne ist.



Bei einem der Bilder hat Rembrandt die goldenen Stickereien auf dem feinen roten Mantel eines noblen Herrn so achtlos mit ein paar eckigen gelben Strichen gemalt, daß man vermuten könnte, der Mann, Jan Six heißt er, habe das Bild nicht komplett bezahlt und habe sich deshalb mit einer halbfertigen Lieferung abfinden müssen. Aber wenn man sich dem nachdenklichen, etwas abwesenden und trotzdem intensiven Blick des Jan Six stellt, dann ahnt man, daß man bei einer leibhaftigen Begegnung mit ihm genausowenig von den Stickereien mitbekommen würde wie auf dem Bild. Sein Blick nimmt sein Gegenüber gefangen.

Auf einem anderen Bild ist ein jüngerer Mann mit dem noch etwas unfertigen Gesicht eines Halberwachsenen gemalt. Man vergißt das Gesicht bald wieder, erinnert sich vielleicht noch an die rote Nase und die roten Wangen, die den Mann als einen Menschen der frischen Luft porträtieren, erinnert sich vielleicht verwundert an den Eindruck, wie wenig man über dieses Gesicht erfährt, und denkt im Gegenteil an den wunderbar präzise ausgemalten Lederkragen seines Gewandes, der mit Verstärkungen und Nieten versehen einem Harnisch oder dem Tragegeschirr eines Pferdes ähnlich ist. Vermutlich hat man damals an diesem Wams den Beruf des Mannes erkannt, vielleicht hatte er eine spezielle polizeiliche oder soldatische Aufgabe, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat Rembrandt ihn bei aller künstlerischen Freiheit sicherlich nicht beleidigt, indem er diesen Kragen so präzise und das Gesicht dagegen so verschwommen gemalt hat. Immerhin hat der Mann oder ein ihm verbundener Auftraggeber viel Geld für das Bild bezahlt. Es wird etwas Richtiges in der Beobachtung sein, daß der Kragen mehr über den Mann sagt als sein Gesicht.

Rembrandt malt Bilder eines ersten, ganzheitlichen Eindrucks und bleibt damit singulär unter den in der Regel viel fotografischer malenden Kollegen seiner Epoche. Wenn man ihn am Ende in seinen Selbstporträts als alten Mann sieht, dann legt sich ein zweiter Schleier über die Details des gemalten Gesichts: der Schleier der Barmherzigkeit.



Man ahnt etwas vom Drama eines zu Ende gehenden Lebens, von Bitterkeiten, Rückschlägen und erloschenen Leidenschaften. Diese Bilder sind auch ohne präzise Details vollkommen wahr, sie würden den Betrachter vielleicht mit ihrer Kraft verletzen, wenn sie den Schleier nicht hätten und mehr Einzelheiten preisgeben würden. Auch durch den Schleier hindurch betrachtet sind die Verwüstungen des Alters deutlich genug zu sehen.

Wenn es etwas gibt, das sie erträglich machen könnte, dann die Erinnerung an das Licht, das diesem Menschen in seinem Leben erschienen ist, und das er so unvergleichlich malen konnte.