Vor einigen Wochen ist in den USA ein Buch erschienen, welches sich mit der spannungsreichen Geschichte der amerikanischen Christen oder genauer zweier Gruppen daraus beschäftigt. Der Verfasser stellt sie als zwei Ausprägungen des dortigen Christentums vor. Die einen, zu denen er die Gründerväter der USA zählt, Washington, Jefferson, Madison, vertreten einen intellektuellen Glauben, einen Deismus, der vornehmlich den Kopf des Menschen anspricht, während die anderen zum Herzen reden und entsprechend eine eher pietistische Frömmigkeit vertreten, wie sie etwa Billy Graham und der gegenwärtige Präsident Georg Bush verkörpern. Das Buch hat den Titel Head and Heart, der Autor heißt Gary Wills.
Die Gründerväter und ihre Kopf-Fraktion haben in einem vorausschauenden Akt von Modernität die Trennung von Kirche und Staat in der Verfassung verankert und haben dadurch möglicherweise ihren Brüdern von der Herz-Fraktion entscheidend geholfen, den Glauben frei und unbeeinflußt zu leben. Umgekehrt haben die Herzensfrommen über lange Zeit die gesellschaftliche Stabilität garantiert, auf deren Grundlage sich ein Staat entwickeln konnte, der seinen Bürgern große Freiheiten gewährt, ohne in die Gefahr zu geraten, aufgrund seiner eigenen Widersprüche auseinander zu fallen.
Manchmal ist es gelungen, Kopf und Herz miteinander zu versöhnen. Gary Wills sieht gegenwärtig etwa in dem Präsidentschaftskandidaten Barak Obama einen, der für das eine wie das andere steht, für Kopf und für Herz. Meistens aber war es ein Entweder-Oder zwischen einem eher kühlen, sich im Alltagsleben kaum auswirkenden Vernunftglauben und einem born-again-Christentum, engagiert und lebendig zwar, aber ohne großes intellektuelles Fundament.
In Deutschland hat man in dieser Frage einen anderen Weg gefunden, ohne allerdings die Widersprüche durch eine Synthese beider Denkrichtungen wirklich beseitigen zu können. In gewisser Weise steht dafür das Schlüsselerlebnis des Theologen Schleiermacher am Anfang: er hat als junger Mann eine Zeit unter den pietistischen Herrnhutern gelebt und sich darum bemüht, ihren Herzensglauben zu übernehmen, zu seinem Leidwesen allerdngs vergeblich. Er hat sich dann um das Jahr 1787 herum mit den berühmten Worten von dieser Phase verabschiedet, er werde sich darum bemühen, ein "Herrnhuter höherer Ordnung" zu werden, also einer der den schlichten Herzensglauben transzendiert und ihn in wissenschaftliche Erkenntnis, Ästhetik und Kunst überführt.
Religion sei "Sinn und Geschmack für das Universum", dieses Wort hat Schleiermacher dann später vielen Generationen von Theologen mit auf den Weg gegeben. Sie haben in Deutschland etwas zumindest ansatzweise möglich gemacht, was eine Zeit lang wie das genaue Gegenteil der amerikanischen Verfassungswirklichkeit aussah, nämlich eine Durchdringung von Kirche und Staat. Diese speziell deutsche Konstruktion wurde im 19. Jahrhundert als "Kulturprotestantismus" geschichtliche Wirklichkeit und endete - so die allgemeine Theorie - mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Als Gipfel und gleichzeitig letzte Ursache des Scheiterns dieser Synthese von Kirche und Staat gilt seither die Rolle des berühmten Theologen Adolf von Harnack, der dem Kaiser vor 1914 geholfen hat, seine den Krieg vorbereitenden Reden zu schreiben.
Das alles sollte 1918 zu Ende sei. Der Schweizer Karl Barth kam und lehrte die deutschen Theologen eine "dialektische Theologie", die sie in einer ständigen Spannung zwischen der geglaubten, erhofften Gotteswirklichkeit und dem wirklichen Leben halten sollte. Daß Gott jemals in einem Staat, noch dazu in einem preußischen, seine Wirksamkeit entfalten würde, stand nicht mehr zur Diskussion.
So jedenfalls die offizielle Version.
Ich habe in diesem Jahr eine längere Abhandlung im Internet gefunden, die noch einmal, ebenfalls aus amerikanischer Sicht (der Autor, Mark Lilla, lehrt an der Columbia Universität), die innere Logik und die äußere Faszination des Gedankens eines "Kulturprotestantismus" herausstellt. Wenn man sich auf dessen System einläßt, dann ist der Gedanke nie ganz aus der Welt, daß gerade eine Theologie des Verstandes, also eine Theologie, welche Wunder ablehnt, die Hilfe Gottes in persönlichen Nöten kritisch sieht, das innige Gebet im stillen Kämmerlein und anderes mehr in Frage stellt, den Menschen immer wieder darauf verweisen muß, daß nur der Staat letztlich über sein Wohl und Wehe entscheidet und die Politik also unser Schicksal ist.
Und wenn Gott da ist, wo über unser Schicksal entschieden wird, und wenn dieser Ort der Sitz unserer Regierung ist, dann ist es immer neu unsere Aufgabe, zumindest dafür zu sorgen, daß die Grundsätze unseres Glaubens auch in den Programmen der Parteien festgeschreiben werden. Und immer neu lebt unsere Hoffnung auf, daß uns vernünftige Gesetze und eine vernünftige Regierung schließlich doch zu besseren Verhältnissen, wenn nicht gar zu einem kleinen neuen Jerusalem hier auf Erden führen werden. Die Erwartungen, die viele Leute in christliche Politiker wie Heinemann und Rau gesetzt haben, gingen in diese Richtung.
In diesem Sinn ist der "Kulturprotestantismus" weiterhin lebendig. Viele evangelische Predigten und Andachten, die ich in meinem Leben gehört habe, waren im Sinne einer staatstragenden Vernunftreligion gehalten und erwarteten oft mehr von vernünftigen politischen Entscheidungen als vom Eingreifen Gottes. Das meiste in diesen Predigten war in einem Ton gesagt, der sich der Verantwortung gegenüber dem Ganzen der Bundesrepublik Deutschland bewußt war, gerade so, als ob man alle Äußerungen der Kirche so halten sollte, daß sie beim Kultusministerium eingereicht dort lebhafte Zustimmung hervorrufen würden. Helmuth Schmidt hat es etwas anders aber in die gleiche Richtung gesagt: viele Pastoren predigten so, als ob sie im Feuilleton der "Zeit" veröffentlicht werden sollten
Ich möchte mich von diesen Bemühungen nicht leichten Herzens distanzieren. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse und die Zeiten addiere, in denen ich mit anderen darüber diskutiert habe, welche Maßnahmen die jeweilige Regierung zur Verbesserung unserer Lebensbedingungen ergreifen sollte, und diese mit den Zeiten vergleiche, in denen ich etwa darüber geredet habe, wie man auf rechte Weise beten lernen kann, dann bin ich auch ein Kulturprotestant.
Gibt es einen Ausweg? Vermutlich hat es kaum jemand geschafft, diesen Post bis zu dieser Stelle hier zu lesen, deshalb kann ich in meinem Selbstgespräch zu einem etwas riskanten Thema kommen und noch anfügen, daß mich ein weiteres neues Buch* in diesem Jahr besonders angesprochen hat. Es übersetzt den ersten Korintherbrief neu und enthält dabei einige überraschende Passagen über das Zungenreden.
Paulus nennt es ein "Reden im Geist" und bringt es zusammen mit vielen anderen religiösen Phänomenen damit eigentlich erst einmal in den Bereich der geistigen Welt, also der Kopf-Fraktion, die ja aus geistig und intellektuell orientierten Menschen besteht. So sieht es zumindest der Autor, ein 75 Jahre alter katholischer Professor, der lange in Gemeinden gelebt hat, in denen solche "geistigen" oder "pneumatischen" Phänomene aufgetreten sind. Er schildert sie als helle Momente, in denen der Geist des Menschen in besonderer Weise auf Gott eingestellt ist, und in denen die Menschen Dinge erfahren, die bisher weder ihr eigener Verstand noch ihr eigenes Gefühl ihnen zu sagen imstande sind.
Nach meinem Eindruck knüpft Paulus mit seiner Lehre vom Pneuma hier an die alte hebräische Vorstellung von Seele als "Atem" an, gerade so, als ob es neben Kopf und Herz noch einen dritten Empfangseingang gibt, über den der Mensch wesentliche Dinge über Gott und sich selbst erfährt. Gott gibt ja in der Schöpfung den Menschen sein Leben, indem er ihm etwas von seinem Atem mitgibt. Wenn Luther die berühmte Stelle in Psalm 23 mit "du erquickest meine Seele" übersetzt, dann heißt es dort wörtlich "du bringst meine nefesch zurück", was gleichbedeutend mit Atem und Seele ist, aber einer Seele, die griechisch gesprochen näher an Pneuma als an Psyche ist.
So schließe ich in gewisser Weise die Gedanken dieses Jahres mit der Hoffnung ab, daß es neben Kopf und Herz noch etwas anderes gibt, über das Gott mit den Menschen reden kann, über das er mit mir reden kann. Daß er redet, neu redet, scheint mir in diesen Tagen dringender denn je zu sein.
* Norbert Baumert, Sorgen des Seelsorgers
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