Dieser Artikel ist unter dem Titel „Belief Is the Least Part of Faith“ am 29. Mai in der New York Times erschienen. Mit meiner Übersetzung hatte
ich das Problem, dass es hier natürlich keinen Sinn macht, sowohl „Belief“ als
auch „Faith“ mit „Glaube“ zu übersetzen. Frau Luhrmann benutzt Belief im Sinne
eines intellektuellen Anerkennens und Faith als das sichtbare, in eine
Kirchenzugehörigkeit mündende Ergebnis religiösen Handelns. Deshalb habe ich für
„Belief“ in der Regel Worte wie „Fürwahrhalten“ oder ähnlich gewählt.
Vor einigen Wochen
war ich Teil einer Predigt in meiner Universitäts-Kirche. Sie gehört zu der Art
von ökumenischen Kirchen, in denen ich aufgewachsen bin. Der Pastor und ich saßen
etwas erhöht über der Gemeinde und unterhalb der bunten Kirchenfenster und
sprachen über die Art und Weise wie evangelikale Christen Gott verstehen - ein
Thema über das ich ein Buch geschrieben hatte. Danach gab es ein Mittagessen für
die Gemeinde. Die Fragen, welche die Menschen stellten, während wir alle unsere
Avocado-und-Käse-Sandwiches aßen, drehten sich um das Rätsel des persönlichen Fürwahrhaltens.
Warum sehen die Leute Gott als real an? Was ist unser Beweis dafür, dass es einen
unsichtbaren Beweger gibt, der einen wirklichen Einfluss auf unser Leben hat?
Wie können Menschen wie diese Evangelikalen so gewiss sein?
Dies sind
die Fragen, die sich akademisch ausgebildete progressiv-denkende Menschen über
den Glauben stellen. Es sind tiefe Fragen. Aber sie sind in gleicher Weise auch
abstrakt und geistig. Es sind philosophische Fragen. In einer evangelikalen
Kirche dagegen hätten sich die Fragen wahrscheinlich darum gedreht, wie man Gottes
Liebe spüren kann und wie man sich stärker der Gegenwart Gottes bewusst werden kann.
Das sind grundsätzlich praktische Fragen.
Man kann sich
vorstellen, dass, wenn jemand vor der Entscheidung steht, ein oder zwei
Stunden pro Woche sich entweder mit der einen oder mit der anderen Art der obigen Fragen
abzumühen, er sich für die praktische Art entscheiden würde. Diese Wahl
ist für viele Evangelikale sehr viel vertrauter und alltäglicher als sich das die
meisten säkularen Menschen vorstellen. Nicht alle Mitglieder von theologisch tief
konservativen Kirchen – Kirchen, die scheinbar
klare Regeln darüber haben, wie Menschen sich verhalten und was sie für
richtig halten sollen – haben sich klar dafür entschieden, ob oder wie Gott
existiert. In einer charismatischen evangelischen Kirche, die ich untersucht
habe, sagten die Menschen oft Dinge, die vermuten ließen, dass sie eher
widersprüchliche und vielleicht sogar skeptische Ansichten zur Realität Gottes hatten.
Eine fromme Frau sagte eines Abends in einer Gebetsgruppe: "Ich glaube es
nicht, aber ich bleibe dabei. Das ist meine Definition des Glaubens."
Es war eine
etwas leichtfertige Spontan-Bemerkung, aber es war auch eine moderne Version von
Pascals Wette: im Angesicht ihrer Unsicherheit über die Existenz Gottes
entschied die Frau, dass es ihr besser ginge, wenn sie sich so verhielte, als
ob Gott existierte. Sie entschied sich dafür, die praktische Frage in den Vordergrund
zu stellen, wie man die Welt so erfahren kann, als sei sie von einem liebenden
Gott getragen. Sie legte dafür ihre Grübeleien, ob und auf welche
Weise der unsichtbare Beweger wirklich da war, zur Seite.
Die Rolle
des Fürwahrhaltens in der Religion wird stark überbewertet, wie Anthropologen
seit langem wissen. Im Jahr 1912, argumentierte Émile Durkheim, einer der
Begründer der modernen Sozialwissenschaften, dass die Religion als eine
Möglichkeit für soziale Gruppen entstanden ist, sich als Gruppen zu erleben. Er
dachte, dass, wenn die Menschen sich in sozialen Gruppen erleben, sie sich größer
als sich selbst fühlten, besser, lebendiger – und dass sie diese Lebendigkeit
als etwas Übernatürliches erkannten. Religiöse Ideen entstanden, um die Erfahrung
zu erklären, Teil von etwas Größerem zu sein. Dürkheim dachte, dass der Glaube mehr
wie eine Fahne war als wie eine philosophische Position: man geht nicht in die
Kirche, weil man an Gott glaubt, sondern man glaubt an Gott, weil man in die
Kirche geht.
In der Tat
kann man argumentieren, dass religiöser Glaube, so wie wir ihn heute
begrifflich fassen, ein vollständig neuzeitliches Phänomen ist. Der vergleichende
Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith hat darauf hingewiesen, dass in
der Zeit als die King James Bibel in 1611 gedruckt wurde, "glauben" so
etwas bedeutete wie „wertschätzen.“ Smith, der im Jahr 2000 starb, schrieb
einmal "Die Behauptung ‚Ich glaube an Gott‘ bedeutete früher: ‚Angesichts der Wirklichkeit
Gottes als einer Tatsache des Universums verspreche ich ihm hiermit mein Herz
und meine Seele. Ich entscheide mich verbindlich, in Treue zu ihm zu leben. Ich
vertraue ihm mein Leben zur Beurteilung an, seiner Barmherzigkeit vertrauend.‘“
Heute kann die Aussage von jemand so getroffen werden, dass sie bedeutet: „Angesichts
der Unsicherheit, ob es einen Gott als eine Tatsache des modernen Lebens gibt oder
nicht, verkünde ich, dass meine Meinung ‚Ja‘ lautet.“
Um klar zu
sein, ich will nicht sagen, dass der Glaube nicht wichtig für Christen ist. Er
ist ganz offenkundig wichtig. Aber säkulare Amerikaner denken oft, dass die
wichtigste Sache, die man über Religion verstehen lernen muss, die Frage
betrifft, warum Menschen an Gott glauben Sie nehmen an, dass Glaube dem Handeln
vorausgeht und eine Wahl erklärt. Das ist Teil unseres Volksmodells des Denkens:
dass der Glaube zuerst kommt.
Aber das war
nicht wirklich das, was ich nach meinen Jahren sah, in denen ich Zeit in
evangelikalen Kirchen verbracht hatte. Ich sah, dass die Menschen in die Kirche
gingen, um Freude zu erleben und um zu lernen, wie man mehr davon bekommen kann. Mittlerweile
finde ich, dass es hilfreicher ist, über den Glauben als etwas zu denken, auf
den sich die Fragen der Menschen konzentrieren, als auf Erkenntnissätze, an
denen sie festhalten.
Wenn man das
Problem des Glaubens im Sinne eines Fürwahrhaltens umgehen kann – und die damit
verbundene Politik, die so sehr ablenkend sein kann – dann wird es leichter, zu
sehen, dass die evangelikale Sicht der Welt voller Freude ist. Gott ist gut.
Die Welt ist gut. Die Dinge werden sich zum Guten wenden, selbst wenn sie jetzt
nicht gut scheinen. Das ist es, was die Menschen in die Kirche zieht. Es ist
verständlicherweise schwer für weltliche Beobachter, in diesem Sinn das Problem des Glaubens
zu umgehen. Aber es ist es wert zu erwägen, dass im Glauben das Streben nach Freude
verborgen liegt und dass dieses Streben der allererste Grund ist, warum viele
Menschen in die Kirche gehen.
* Professor Tanya Marie Luhrmann, geboren 1959, lehrt Anthropologie
an der Universität von Stanford / Kalifornien und ist Autorin des Buches “When
God Talks Back: Understanding the American Evangelical Relationship With God”
1 Kommentar:
Herr Luhmann unterscheidet sich akustisch von Frau Luhrmann so gut wie gar nicht. Er schreibt an einer Stelle, daß die Spezies derjenigen, denen Theorie wichtiger als Praxis ist, recht wenige Exemplare aufweist. Es gibt sie gleichwohl, und ich muß befürchten, ein solches Exemplar zu sein.
Kommentar veröffentlichen