Sonntag, 2. Juni 2013

Gott für existent halten ist der geringste Teil des Glaubens


von Tanya Marie Luhrmann*




Dieser Artikel ist unter dem Titel „Belief Is the Least Part of Faith“ am 29. Mai in der New York Times erschienen. Mit meiner Übersetzung hatte ich das Problem, dass es hier natürlich keinen Sinn macht, sowohl „Belief“ als auch „Faith“ mit „Glaube“ zu übersetzen. Frau Luhrmann benutzt Belief im Sinne eines intellektuellen Anerkennens und Faith als das sichtbare, in eine Kirchenzugehörigkeit mündende Ergebnis religiösen Handelns. Deshalb habe ich für „Belief“ in der Regel Worte wie „Fürwahrhalten“ oder ähnlich gewählt.
 Vor einigen Wochen war ich Teil einer Predigt in meiner Universitäts-Kirche. Sie gehört zu der Art von ökumenischen Kirchen, in denen ich aufgewachsen bin. Der Pastor und ich saßen etwas erhöht über der Gemeinde und unterhalb der bunten Kirchenfenster und sprachen über die Art und Weise wie evangelikale Christen Gott verstehen - ein Thema über das ich ein Buch geschrieben hatte. Danach gab es ein Mittagessen für die Gemeinde. Die Fragen, welche die Menschen stellten, während wir alle unsere Avocado-und-Käse-Sandwiches aßen, drehten sich um das Rätsel des persönlichen Fürwahrhaltens. Warum sehen die Leute Gott als real an? Was ist unser Beweis dafür, dass es einen unsichtbaren Beweger gibt, der einen wirklichen Einfluss auf unser Leben hat? Wie können Menschen wie diese Evangelikalen so gewiss sein?

Dies sind die Fragen, die sich akademisch ausgebildete progressiv-denkende Menschen über den Glauben stellen. Es sind tiefe Fragen. Aber sie sind in gleicher Weise auch abstrakt und geistig. Es sind philosophische Fragen. In einer evangelikalen Kirche dagegen hätten sich die Fragen wahrscheinlich darum gedreht, wie man Gottes Liebe spüren kann und wie man sich stärker der Gegenwart Gottes bewusst werden kann. Das sind grundsätzlich praktische Fragen.
Man kann sich vorstellen, dass, wenn jemand vor der Entscheidung steht, ein oder zwei Stunden pro Woche sich entweder mit der einen oder mit der anderen Art der obigen Fragen abzumühen, er sich für die praktische Art entscheiden würde. Diese Wahl ist für viele Evangelikale sehr viel vertrauter und alltäglicher als sich das die meisten säkularen Menschen vorstellen. Nicht alle Mitglieder von theologisch tief konservativen Kirchen – Kirchen, die scheinbar  klare Regeln darüber haben, wie Menschen sich verhalten und was sie für richtig halten sollen – haben sich klar dafür entschieden, ob oder wie Gott existiert. In einer charismatischen evangelischen Kirche, die ich untersucht habe, sagten die Menschen oft Dinge, die vermuten ließen, dass sie eher widersprüchliche und vielleicht sogar skeptische Ansichten zur Realität Gottes hatten. Eine fromme Frau sagte eines Abends in einer Gebetsgruppe: "Ich glaube es nicht, aber ich bleibe dabei. Das ist meine Definition des Glaubens."
Es war eine etwas leichtfertige Spontan-Bemerkung, aber es war auch eine moderne Version von Pascals Wette: im Angesicht ihrer Unsicherheit über die Existenz Gottes entschied die Frau, dass es ihr besser ginge, wenn sie sich so verhielte, als ob Gott existierte. Sie entschied sich dafür, die praktische Frage in den Vordergrund zu stellen, wie man die Welt so erfahren kann, als sei sie von einem liebenden Gott getragen. Sie legte dafür ihre Grübeleien, ob und auf welche Weise der unsichtbare Beweger wirklich da war, zur Seite.
Die Rolle des Fürwahrhaltens in der Religion wird stark überbewertet, wie Anthropologen seit langem wissen. Im Jahr 1912, argumentierte Émile Durkheim, einer der Begründer der modernen Sozialwissenschaften, dass die Religion als eine Möglichkeit für soziale Gruppen entstanden ist, sich als Gruppen zu erleben. Er dachte, dass, wenn die Menschen sich in sozialen Gruppen erleben, sie sich größer als sich selbst fühlten, besser, lebendiger – und dass sie diese Lebendigkeit als etwas Übernatürliches erkannten. Religiöse Ideen entstanden, um die Erfahrung zu erklären, Teil von etwas Größerem zu sein. Dürkheim dachte, dass der Glaube mehr wie eine Fahne war als wie eine philosophische Position: man geht nicht in die Kirche, weil man an Gott glaubt, sondern man glaubt an Gott, weil man in die Kirche geht.
In der Tat kann man argumentieren, dass religiöser Glaube, so wie wir ihn heute begrifflich fassen, ein vollständig neuzeitliches Phänomen ist. Der vergleichende Religionswissenschaftler Wilfred Cantwell Smith hat darauf hingewiesen, dass in der Zeit als die King James Bibel in 1611 gedruckt wurde, "glauben" so etwas bedeutete wie „wertschätzen.“ Smith, der im Jahr 2000 starb, schrieb einmal "Die Behauptung ‚Ich glaube an Gott‘  bedeutete früher: ‚Angesichts der Wirklichkeit Gottes als einer Tatsache des Universums verspreche ich ihm hiermit mein Herz und meine Seele. Ich entscheide mich verbindlich, in Treue zu ihm zu leben. Ich vertraue ihm mein Leben zur Beurteilung an, seiner Barmherzigkeit vertrauend.‘“ Heute kann die Aussage von jemand so getroffen werden, dass sie bedeutet: „Angesichts der Unsicherheit, ob es einen Gott als eine Tatsache des modernen Lebens gibt oder nicht, verkünde ich, dass meine Meinung ‚Ja‘ lautet.“
Um klar zu sein, ich will nicht sagen, dass der Glaube nicht wichtig für Christen ist. Er ist ganz offenkundig wichtig. Aber säkulare Amerikaner denken oft, dass die wichtigste Sache, die man über Religion verstehen lernen muss, die Frage betrifft, warum Menschen an Gott glauben Sie nehmen an, dass Glaube dem Handeln vorausgeht und eine Wahl erklärt. Das ist Teil unseres Volksmodells des Denkens: dass der Glaube zuerst kommt.
Aber das war nicht wirklich das, was ich nach meinen Jahren sah, in denen ich Zeit in evangelikalen Kirchen verbracht hatte. Ich sah, dass die Menschen in die Kirche gingen, um Freude zu erleben und um zu lernen, wie man mehr davon bekommen kann. Mittlerweile finde ich, dass es hilfreicher ist, über den Glauben als etwas zu denken, auf den sich die Fragen der Menschen konzentrieren, als auf Erkenntnissätze, an denen sie festhalten.
Wenn man das Problem des Glaubens im Sinne eines Fürwahrhaltens umgehen kann – und die damit verbundene Politik, die so sehr ablenkend sein kann – dann wird es leichter, zu sehen, dass die evangelikale Sicht der Welt voller Freude ist. Gott ist gut. Die Welt ist gut. Die Dinge werden sich zum Guten wenden, selbst wenn sie jetzt nicht gut scheinen. Das ist es, was die Menschen in die Kirche zieht. Es ist verständlicherweise schwer für weltliche Beobachter, in diesem Sinn das Problem des Glaubens zu umgehen. Aber es ist es wert zu erwägen, dass im Glauben das Streben nach Freude verborgen liegt und dass dieses Streben der allererste Grund ist, warum viele Menschen in die Kirche gehen.

* Professor Tanya Marie Luhrmann, geboren 1959, lehrt Anthropologie an der Universität von Stanford / Kalifornien und ist Autorin des Buches “When God Talks Back: Understanding the American Evangelical Relationship With God”

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Herr Luhmann unterscheidet sich akustisch von Frau Luhrmann so gut wie gar nicht. Er schreibt an einer Stelle, daß die Spezies derjenigen, denen Theorie wichtiger als Praxis ist, recht wenige Exemplare aufweist. Es gibt sie gleichwohl, und ich muß befürchten, ein solches Exemplar zu sein.