Donnerstag, 24. Juli 2014

Israel - zwei Sichtweisen


Ein in Frankreich lebender Freund schrieb mir vor ein paar Tagen zu Gaza, die Staatsphilosophie Israels seit dem Krieg von 1967 sei  "Entweder wir gewinnen oder wir gehen unter". Ich glaube, dass dies trotz aller Kürze richtig gesehen ist. Auch Netanyahu fasst dieses Denken in die griffige Formel: „Wenn die Araber heute ihre Waffen niederlegen, wird es morgen  Frieden geben. Wenn Israel heute seine Waffen niederlegt, wird es morgen kein Israel mehr geben.“ Und auch aus dem, was meine israelischen Facebook-Freunde schreiben, klingt es ganz ähnlich: der Kampf unserer Armee richtet sich gegen einen Feind, der unsere physische Vernichtung will. Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern.
Der Gedanke an den Holocaust ist allgegenwärtig. Vor dem Hintergrund der Erinnerung daran ist eine Diskussion darüber, ob es bei der Wahl der Mittel irgendwelche moralischen Grenzen geben sollte – etwa die Verhinderung des Todes zumindest von Frauen und Kindern – kaum zu führen. Es wären ja auch im Wissen um das Ausmaß der Vernichtung jüdischen Lebens unter Hitler nach 1940 alle Mittel erlaubt gewesen, den Holocaust zu verhindern, auch eine Atombombe auf Berlin.
Und da die Hamas – was kaum zu bezweifeln ist – einen Holocaust gleichen Maßes herbeiführen möchte, darf sie mit allen Mitteln bekämpft werden. Das ist die erste Sichtweise.

Um hiergegen eine zweite Sichtweise überhaupt zu erlauben, muss man als Deutscher die Verpflichtung sehr ernst nehmen, die unser Volk gegenüber Israel hat, und die in der Verhinderung aller Versuche besteht, den Holocaust zu wiederholen. Erst wenn das klar ist, darf man vorsichtig damit beginnen, im Sinne der palästinensischen  Opfer zu denken und zu fragen, ob die Staatsphilosophie richtig ist und – falls man auch das bejaht – ob das darin enthaltene einfache „Entweder / Oder“ zu vernünftigen und angemessenen politischen Entscheidungen führt.

Wenn diese Frage nicht verboten ist, dann kommt das Missverhältnis in den Blick, das zwischen der Unfähigkeit der Palästinenser in Gaza, aus ihrer Armut geboren, auf der einen Seite und ihrem selbst vorgegebenen riesigen Ziel der Vertreibung oder Vernichtung der Israelis auf der anderen Seite besteht. Sie haben in den letzten Jahren Israel keinen nennenswerten Schaden zufügen können. Zwar hat es auch in Israel Tote gegeben – und jeder Tote ist ein großes Unglück – aber es erscheint einer kritisch zuschauenden Weltöffentlichkeit immer schwerer erklärbar zu sein, wo der gefährliche und mit allen Mitteln zu bekämpfende Versuch  zu erkennen ist, den Holocaust zu wiederholen.
Man muss daraus schließen, dass man zwar die Staatsphilosophie des „Entweder / Oder“ bejahen, trotzdem aber Zweifel hegen kann, ob es ratsam ist, ihr mit allen militärischen Machtmitteln zu folgen. Ich sehe die Menschen in der eher unbeteiligten Welt – es gibt ja nicht nur die USA, Deutschland und die NATO, die Israel immer aus Prinzip unterstützen, weil es eine ihnen gleiche offene Demokratie hat – und ich sehe bei diesen Unbeteiligten nicht die Bereitschaft, die Staatsphilosophie Israels zu verstehen und zu akzeptieren. Vermutlich kennt kaum jemand etwa in Indien oder Brasilien diese Philosophie. Aber kaum jemand dort vergisst die grausamen Bilder aus Gaza, die das Internet täglich liefert.

In den Augen dieser Menschen – und ich würde sie auf Milliarden rund um den Globus schätzen – könnte Israel seinen Krieg in den nächsten Tagen moralisch endgültig verloren haben. Israel geschähe dann das, was seine Staatsphilosophie vermeiden will: es ginge unter – nicht im Sinne einer physischen Vernichtung, aber im Sinne eines aus dem Respekt der Völkergemeinschaft herausfallenden Nation.

Wenn man diese Gefahr anerkennt, dann ist Kritik am Vorgehen in Gaza erlaubt. Ein Vorgehen, das die Gefahr eines zweiten Holocausts der Weltöffentlichkeit nicht begreifbar machen kann und das trotzdem keine Rücksicht auf Frauen und Kinder in Gaza nimmt, ist – wie es der Pariser Polizeichef Joseph Fouché über die von Napoleon angeordnete Hinrichtung eines Gegners gesagt hat – „kein Verbrechen, es ist mehr: es ist ein Fehler“.
Dies ist die zweite Sichtweise. Welche richtig ist, wird sich zeigen, wenn die Weltöffentlichkeit reagiert. 
P.S. Kurz nach dem Verfassen dieses Artikels lese ich, dass Brasilien seinen Botschafter aus Tel Aviv zurückgerufen hat, aus Protest gegen die Gewalt in Gaza.
 

 

 

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Man hat allerdings nicht den Eindruck, daß die Hamas mit ihren Leuten im Gazastreifen auch nur so schonend umgeht wie die Israelis. Während die Israelis immerhin warnen vor dem Beschuß, verstecken sich die Hamasleute unter den Zivilisten.