Was ist los mit dem Islam? Warum gibt es so viele wütende
Muslime in der Welt, die den Westen verabscheuen? Warum führen
selbstdeklarierte Islamische Staaten harte Gesetze ein, die Minderheiten,
Frauen und "Abtrünnige" unterdrücken? Warum gibt es Terroristen, die
im Namen Allahs töten?
Viele im Westen haben diese Art von Fragen seit Jahrzehnten gestellt.
Die Antworten variierten von der Behauptung, dass es heute kein Problem im
Islam gibt (was zu abwehrend ist), bis dahin, dass der Islam selbst ein großes
Problem für die Welt ist (was unfair ist und voreingenommen). Zum Glück haben
besser informierte informierte Beobachter objektivere Antworten gegeben: die
islamische Zivilisation, früher einmal die aufgeklärteste der Welt, hat in
letzter Zeit eine akute Krise mit gravierenden Folgen durchgemacht.
Einer der prominenten Köpfe des vergangenen Jahrhunderts,
der britische Historiker Arnold Toynbee, hat auch über die Krise des Islam
nachgedacht, in einem weitgehend vergessenen Aufsatz von 1948: "Islam, der
Westen und die Zukunft." Die islamische Welt befindet sich, schrieb
Toynbee, seit dem 19. Jahrhundert in einer Krise, weil der Islam von den
Westmächten übertroffen, belagert und besiegt wurde. Der Islam, eine Religion,
die immer stolz auf ihren irdischen Erfolg war, stand nun "dem Westen mit
dem Rücken zur Wand gegenüber", was Stress, Wut und Aufruhr unter den
Muslimen verursachte.
Toynbee, mit der Einsicht eines großen Historikers,
analysierte nicht nur die Krise des Islam, sondern verglich sie auch mit einer
älteren Krise einer älteren Religion: der Notlage der Juden im Angesicht der
römischen Herrschaft im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Auch die Juden
waren ein monotheistisches Volk mit einer hohen Meinung von sich selbst, wurden
aber von einem ausländischen Imperium besiegt, erobert und kulturell
angegriffen. Diese Tortur, erklärte Toynbee, zog zwei extreme Reaktionen
hervor: eine davon war "Herodianismus", was bedeutete, wie der König
Herodes mit Rom zusammenzuarbeiten und römische Methoden zu imitieren. Die andere
war "Zelotismus", was Militanz gegen Rom und eine strikte Einhaltung
des jüdischen Rechts bedeutete.
Auch die heutigen Muslime , schrieb Toynbee, werden heimgesucht
von den endlosen Kämpfen zwischen ihren eigenen Herodianern, die den Westen
nachahmen, und ihren eigenen Zeloten, die einen „Archaismus, der vom
ausländischen Druck hervorgerufen wurde" verkörpern. Toynbee hob den modernen
Gründer der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk als einen "Erz-Herodianer" hervor
und dagegen die Arabischen Wahhabiten als Erz-Zeloten. Er prophezeite, dass die
Zeloten letztlich besiegt würden, weil ihnen die Raffinesse fehle, moderne
Technik zu nutzen. Hätte er heute gelebt - und zum Beispiel gesehen, wie
effektiv der Islamische Staat das Internet nutzt – müsste er diesen Optimismus vielleicht
noch einmal überdenken.
Über die Jahrzehnte haben einige muslimische Intellektuelle
die Analogie von Toynbee zur Kenntnis genommen und darauf gedrängt, dass
Muslime einen dritten Weg finden sollten, etwas zwischen Herodianismus und
Zelotismus. Es ist ein vernünftiges Argument, aber es vernachlässigt jede Menge
Geschichte.
Diese moslemischen Möchtegern-Reformer wie Toynbee übersehen,
dass die jüdische Welt des ersten Jahrhunderts nicht auf die Herodianer-Zeloten-Dichotomie
festgelegt war. Es gab andere jüdische Strömungen mit intellektuellen,
mystischen oder konservativen Neigungen. Und da war auch dieser besondere Rabbi
aus Nazareth: Jesus.
Jesus behauptete, der Erlöser - der Messias - zu sein, auf
den sein Volk wartete. Aber anders als andere Messias-Kandidaten seiner Zeit,
entfesselte er nicht eine bewaffnete Rebellion gegen Rom. Er beugte sich aber auch
nicht vor Rom. Er legte seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes: die
Wiederbelebung des Glaubens und die Reform der Religion seines Volkes.
Insbesondere forderte er seine Mitjuden auf, sich auf die moralischen
Prinzipien ihrer Religion zu konzentrieren, anstatt sich mit den minutiösen Einzelheiten
des religiösen Rechts zu beschäftigen. Er kritisierte die legalistischen
Pharisäer zum Beispiel dafür, dass sie "Minze, Raute und jegliches Kraut
verzehnten", aber "Gerechtigkeit und die Liebe Gottes" vernachlässigen.
Christen, natürlich, kennen diese Geschichte gut. Doch auch Muslime
sollten davon Notiz nehmen. Weil sie eine Krise durchmachen, welche der von
Jesus angesprochenen sehr ähnlich ist: während sie von einer fremden
Zivilisation bedrängt werden, werden sie ebenfalls von ihren eigenen Fanatikern
aufgestört, die das Licht nur darin sehen, ein starres Gesetz, die Scharia, aufzurichten
und den Kampf für eine theokratische Herrschaft zu führen. Muslime brauchen
einen kreativen dritten Weg, der ihrem Glauben treu bleibt, der aber auch frei ist
von den Belastungen der Vergangenheit und dem aktuellen politischen Kontext.
Wäre es eine völlig neue Idee für Muslime, von Jesus zu
lernen? In gewisser Weise ja. Während die Muslime Jesus - und seine unbefleckte
Mutter Maria - respektieren und lieben weil der Koran beide von ganzem Herzen
lobt, haben die meisten noch nie über die geschichtliche Mission Jesu nachgedacht,
über das Wesen seiner Lehre und wie es sich auf ihre eigene Wirklichkeit
beziehen könnte.
Eine bemerkenswerte Ausnahme war Muhammad Abduh, einer der
Pioniere der islamischen Moderne im späten 19. Jahrhundert. Abduh, ein frommer
ägyptischer Gelehrter, meinte, die muslimische Welt habe die Toleranz und
Offenheit des frühen Islam verloren und sei von einer dogmatischen, starren
Tradition erstickt worden. Als er das Neue Testament las, war er beeindruckt.
Als Muslim stimmte er nicht mit der christlichen Theologie über Jesus überein,
aber er wurde immer noch von Jesu Lehren bewegt, die für ein Problem, das Abduh
in der muslimischen Welt beobachtete, wichtig waren. Es war das Problem, "auf die
wörtliche Bedeutung des Gesetzes eingefroren zu sein", schrieb er, und dadurch
zu versäumen, "den Zweck des Gesetzes zu verstehen".
Einige andere muslimische Gelehrte stellten die gleichen
Probleme wie Abduh fest. Aber noch hat kein muslimischer religiöser Führer die
entscheidende Kluft zwischen göttlichen Zielen und trockenem Legalismus so kraftvoll
betont wie Jesus. Jesus zeigte auf, wie das Dem-Literalismus-Opfern des Geistes
der Religion zu Schrecken führt wie die Steinigung unschuldiger Frauen durch
bigotte Männer. Es geschieht in manchen muslimischen Ländern heute noch. Jesus lehrte
auch, dass Obsession mit äußeren Äußerungen der Frömmigkeit eine Kultur der
Heuchelei fördern kann - wie es heute in einigen muslimischen Gemeinschaften
der Fall ist. Jesus erklärte sogar den Humanismus zu einem höheren Wert als den
Legalismus, indem er den berühmten Satz sagte: "Der Sabbat wurde für den
Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat."
Können wir Muslime auch folgern: "Die Scharia ist für
den Menschen gemacht, nicht der Mensch für die Scharia"? Oder, wie Jesus,
können auch wir vorschlagen, dass das Reich Gottes - auch „Kalifat“ genannt -
nicht innerhalb eines irdischen Gemeinwesens, sondern in unseren Herzen und Köpfen
entstehen wird? Wenn Jesus "ein Prophet des Islam" ist, wie wir
Muslime oft stolz sagen, dann sollten wir über diese Fragen nachdenken. Wir
sollten es tun, weil Jesus genau diejenigen Probleme angesprochen hat, die uns
heute heimsuchen, und weil er eine prophetische Weisheit begründet hat, die perfekt
für unsere heutige Zeit passt.
Dieser Artikel des türkischen Autors Mustafa Akyol ist am 13.
Februar 2017 unter dem Titel What Jesus Can Teach Today’s Muslims in der New York
Times erschienen. Die Übersetzung ist von mir.
1 Kommentar:
Sehr interessant!
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