Freitag, 17. Februar 2017

Was heutige Muslime von Jesus lernen können (Mustafa Akyol)

Was ist los mit dem Islam? Warum gibt es so viele wütende Muslime in der Welt, die den Westen verabscheuen? Warum führen selbstdeklarierte Islamische Staaten harte Gesetze ein, die Minderheiten, Frauen und "Abtrünnige" unterdrücken? Warum gibt es Terroristen, die im Namen Allahs töten?

Viele im Westen haben diese Art von Fragen seit Jahrzehnten gestellt. Die Antworten variierten von der Behauptung, dass es heute kein Problem im Islam gibt (was zu abwehrend ist), bis dahin, dass der Islam selbst ein großes Problem für die Welt ist (was unfair ist und voreingenommen). Zum Glück haben besser informierte informierte Beobachter objektivere Antworten gegeben: die islamische Zivilisation, früher einmal die aufgeklärteste der Welt, hat in letzter Zeit eine akute Krise mit gravierenden Folgen durchgemacht.


Einer der prominenten Köpfe des vergangenen Jahrhunderts, der britische Historiker Arnold Toynbee, hat auch über die Krise des Islam nachgedacht, in einem weitgehend vergessenen Aufsatz von 1948: "Islam, der Westen und die Zukunft." Die islamische Welt befindet sich, schrieb Toynbee, seit dem 19. Jahrhundert in einer Krise, weil der Islam von den Westmächten übertroffen, belagert und besiegt wurde. Der Islam, eine Religion, die immer stolz auf ihren irdischen Erfolg war, stand nun "dem Westen mit dem Rücken zur Wand gegenüber", was Stress, Wut und Aufruhr unter den Muslimen verursachte.

Toynbee, mit der Einsicht eines großen Historikers, analysierte nicht nur die Krise des Islam, sondern verglich sie auch mit einer älteren Krise einer älteren Religion: der Notlage der Juden im Angesicht der römischen Herrschaft im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Auch die Juden waren ein monotheistisches Volk mit einer hohen Meinung von sich selbst, wurden aber von einem ausländischen Imperium besiegt, erobert und kulturell angegriffen. Diese Tortur, erklärte Toynbee, zog zwei extreme Reaktionen hervor: eine davon war "Herodianismus", was bedeutete, wie der König Herodes mit Rom zusammenzuarbeiten und römische Methoden zu imitieren. Die andere war "Zelotismus", was Militanz gegen Rom und eine strikte Einhaltung des jüdischen Rechts bedeutete.

Auch die heutigen Muslime , schrieb Toynbee, werden heimgesucht von den endlosen Kämpfen zwischen ihren eigenen Herodianern, die den Westen nachahmen, und ihren eigenen Zeloten, die einen „Archaismus, der vom ausländischen Druck hervorgerufen wurde" verkörpern. Toynbee hob den modernen Gründer der Türkei, Mustafa Kemal Atatürk als einen "Erz-Herodianer" hervor und dagegen die Arabischen Wahhabiten als Erz-Zeloten. Er prophezeite, dass die Zeloten letztlich besiegt würden, weil ihnen die Raffinesse fehle, moderne Technik zu nutzen. Hätte er heute gelebt - und zum Beispiel gesehen, wie effektiv der Islamische Staat das Internet nutzt – müsste er diesen Optimismus vielleicht noch einmal überdenken.

Über die Jahrzehnte haben einige muslimische Intellektuelle die Analogie von Toynbee zur Kenntnis genommen und darauf gedrängt, dass Muslime einen dritten Weg finden sollten, etwas zwischen Herodianismus und Zelotismus. Es ist ein vernünftiges Argument, aber es vernachlässigt jede Menge Geschichte.

Diese moslemischen Möchtegern-Reformer wie Toynbee übersehen, dass die jüdische Welt des ersten Jahrhunderts nicht auf die Herodianer-Zeloten-Dichotomie festgelegt war. Es gab andere jüdische Strömungen mit intellektuellen, mystischen oder konservativen Neigungen. Und da war auch dieser besondere Rabbi aus Nazareth: Jesus.

Jesus behauptete, der Erlöser - der Messias - zu sein, auf den sein Volk wartete. Aber anders als andere Messias-Kandidaten seiner Zeit, entfesselte er nicht eine bewaffnete Rebellion gegen Rom. Er beugte sich aber auch nicht vor Rom. Er legte seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes: die Wiederbelebung des Glaubens und die Reform der Religion seines Volkes. Insbesondere forderte er seine Mitjuden auf, sich auf die moralischen Prinzipien ihrer Religion zu konzentrieren, anstatt sich mit den minutiösen Einzelheiten des religiösen Rechts zu beschäftigen. Er kritisierte die legalistischen Pharisäer zum Beispiel dafür, dass sie "Minze, Raute und jegliches Kraut verzehnten", aber "Gerechtigkeit und die Liebe Gottes" vernachlässigen.
Christen, natürlich, kennen diese Geschichte gut. Doch auch Muslime sollten davon Notiz nehmen. Weil sie eine Krise durchmachen, welche der von Jesus angesprochenen sehr ähnlich ist: während sie von einer fremden Zivilisation bedrängt werden, werden sie ebenfalls von ihren eigenen Fanatikern aufgestört, die das Licht nur darin sehen, ein starres Gesetz, die Scharia, aufzurichten und den Kampf für eine theokratische Herrschaft zu führen. Muslime brauchen einen kreativen dritten Weg, der ihrem Glauben treu bleibt, der aber auch frei ist von den Belastungen der Vergangenheit und dem aktuellen politischen Kontext.

Wäre es eine völlig neue Idee für Muslime, von Jesus zu lernen? In gewisser Weise ja. Während die Muslime Jesus - und seine unbefleckte Mutter Maria - respektieren und lieben weil der Koran beide von ganzem Herzen lobt, haben die meisten noch nie über die geschichtliche Mission Jesu nachgedacht, über das Wesen seiner Lehre und wie es sich auf ihre eigene Wirklichkeit beziehen könnte.

Eine bemerkenswerte Ausnahme war Muhammad Abduh, einer der Pioniere der islamischen Moderne im späten 19. Jahrhundert. Abduh, ein frommer ägyptischer Gelehrter, meinte, die muslimische Welt habe die Toleranz und Offenheit des frühen Islam verloren und sei von einer dogmatischen, starren Tradition erstickt worden. Als er das Neue Testament las, war er beeindruckt. Als Muslim stimmte er nicht mit der christlichen Theologie über Jesus überein, aber er wurde immer noch von Jesu Lehren bewegt, die für ein Problem, das Abduh in der muslimischen Welt beobachtete, wichtig  waren. Es war das Problem, "auf die wörtliche Bedeutung des Gesetzes eingefroren zu sein", schrieb er, und dadurch zu versäumen, "den Zweck des Gesetzes zu verstehen".

Einige andere muslimische Gelehrte stellten die gleichen Probleme wie Abduh fest. Aber noch hat kein muslimischer religiöser Führer die entscheidende Kluft zwischen göttlichen Zielen und trockenem Legalismus so kraftvoll betont wie Jesus. Jesus zeigte auf, wie das Dem-Literalismus-Opfern des Geistes der Religion zu Schrecken führt wie die Steinigung unschuldiger Frauen durch bigotte Männer. Es geschieht in manchen muslimischen Ländern heute noch. Jesus lehrte auch, dass Obsession mit äußeren Äußerungen der Frömmigkeit eine Kultur der Heuchelei fördern kann - wie es heute in einigen muslimischen Gemeinschaften der Fall ist. Jesus erklärte sogar den Humanismus zu einem höheren Wert als den Legalismus, indem er den berühmten Satz sagte: "Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat."

Können wir Muslime auch folgern: "Die Scharia ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für die Scharia"? Oder, wie Jesus, können auch wir vorschlagen, dass das Reich Gottes - auch „Kalifat“ genannt - nicht innerhalb eines irdischen Gemeinwesens, sondern in unseren Herzen und Köpfen entstehen wird? Wenn Jesus "ein Prophet des Islam" ist, wie wir Muslime oft stolz sagen, dann sollten wir über diese Fragen nachdenken. Wir sollten es tun, weil Jesus genau diejenigen Probleme angesprochen hat, die uns heute heimsuchen, und weil er eine prophetische Weisheit begründet hat, die perfekt für unsere heutige Zeit passt.


Dieser Artikel des türkischen Autors Mustafa Akyol ist am 13. Februar 2017 unter dem Titel What Jesus Can Teach Today’s Muslims in der New York Times erschienen. Die Übersetzung ist von mir.