Donnerstag, 20. April 2017

Barmherzigkeit

Fenster in der Kirche auf dem
Berg der Seligpreisungen
Die Geschichte von dem Geschenk, das ich vor vielen Jahren einmal  aus Afrika erhielt, habe ich vermutlich schon häufiger erzählt. Das Geschenk bestand aus einem Holzbrett, auf dem in kunstvoller Schrift eine Seligpreisung geschrieben war. Der liebe Freund, der mir dieses Souvenir von einer Reise mitgebracht hatte, wusste eigentlich nur, dass eine Seligpreisung darauf stand, nicht welche, konnte aber durch eine einfache Konstruktion trotzdem sagen, dass es diejenige war, in der als einziger von den acht Seligpreisungen das Wort für die Eigenschaft der Gepriesenen gleich ist dem Wort, welches ihre Belohnung bezeichnet. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. 

Das Wort kommt also zweimal vor, was sich selbst dann erkennen lässt, wenn die Seligpreisung in Suaheli geschrieben ist.
Nur die Barmherzigen werden mit dem belohnt, was sie geben: mit Barmherzigkeit. Die Friedfertigen werden nicht mit Frieden belohnt und die Sanftmütigen nicht mit Sanftmut. Aber den Barmherzigen ergeht es so, wie sie es selbst gewährt haben.
Ich habe heute in der kleinen Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen daran gedacht, dass ich eine Zeit lang neidisch war, nachdem vor kurzem der Münsteraner Professor Mouhanad Khorchide ein schönes Buch mit dem Titel "Islam ist Barmherzigkeit" geschrieben hat. Ich hätte mir gewünscht, dass die Christen ihm zuvorgekommen wären und ein Buch mit dem Titel "Christentum ist Barmherzigkeit" herausgebracht hätten. Nun, vielleicht wäre das gar nicht richtig gewesen, denn Barmherzigkeit ist nicht das erste, was einem einfällt, wenn man an Christen denkt.
Im Gegenteil: der christliche Vater eines erwachsenen homosexuellen Sohnes sagte mir, es ist etwas falsch, wenn die Gesellschaft barmherziger ist als die Kirche. Christen glauben oft, dass sie im Sinne eines christlichen Prinzips nicht von einer ethischen Grundlinie abweichen können. Das lässt dann der Barmherzigkeit nur wenig Spielraum.

Ich will an dieser Stelle nicht unbarmherzig mit den Strengen sein und allen Christen die Möglichkeit lassen, die Linie zwischen Gesetz und Barmherzigkeit selbst für sich festzulegen. Aber zum Ursprung zurückzukehren und die Barmherzigkeit da zu suchen, wo sie am ersten und stärksten gepredigt worden ist, bei Jesus, das kann in keinem Fall falsch sein.


Nachtrag 6. Mai 2017:

Selig der, der Barmherzigkeit als etwas anstrebt, das er selbst benötigt. Er kennt durch sein Verlangen das Wesen der Barmherzigkeit und kann deshalb selbst barmherzig sein (und gemäß der Verheißung Jesu dann Barmherzigkeit erlangen).

Man kann das vor dem Hintergrund formulieren, dass Barmherzigkeit heute aus der Mode gekommen ist. Wir wollen keine Barmherzigkeit, wir wollen unser Recht. Aber die vollkommene Erfüllung aller unserer Rechtsansprüche ist nicht das, was die Bibel die "Erfüllung des Gesetzes" nennt. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes, sagt Paulus in Römer 13,10.

Wenn wir in unserer Gesellschaft mehr Barmherzigkeit haben wollen, müssen wir deshalb als erstes die Bereiche finden, in denen wir selbst auf Barmherzigkeit angewiesen sind. Das sind Gebiete, wo wir klein sind und schutzlos und rechtlos. Das sind vielleicht am Ende alle Gebiete in unserer Beziehung zu Gott, denn besonders auf dessen Barmherzigkeit sind wir angewiesen, wenn er unsere Taten beurteilt.

Die Christen sind stolz darauf, dass sie im Vergleich zu den Muslimen weniger auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen sind. Die Christen wissen schon jetzt um die Vergebung ihrer Sünden, die Muslime müssen noch durch ein Endgericht, dessen Urteil sie heute noch nicht kennen. Aber vielleicht wissen sie gerade deshalb mehr von der Barmherzigkeit, die gleich in der ersten Zeile des Korans angerufen wird - "Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen". Vielleicht kann deshalb einer der ihren dieses Buch "Islam ist Barmherzigkeit" schreiben, und von uns Christen schreibt niemand etwas dazu.


Ergänzung: das Urwort für Barmherzigkeit ist das hebräische rehem, im arabischen ganz ähnlich: rahim. Es bezeichnet wohl in beiden Sprachen den schützenden Mutterleib, der das ungeborene Kind birgt und versorgt.



1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Als Inbild der Barmherzigkeit gilt der barmherzige Samariter. E.Carrère macht in Le Royaume darauf aufmerksam, daß sich die Barmherzigkeit des Samariters betont in vernünftigen Grenzen hält. Er leistet Erste Hilfe, bringt den Verwundeten zu einer Herberge und hinterlegt eine überschaubare Menge Geld. Selbstüberforderung wird vermieden.