Samstag, 29. April 2017

Reisen in der entzauberten Welt

Landschaft am See Genezareth
Niemand sollte enttäuscht sein, wenn er an den heiligen Orten des Landes Israel nicht der Kraft begegnet, die an diesen Orten gewirkt und sie vielen Generationen heilig gemacht hat. Moderne Menschen leben in einer entzauberten Welt* und können sich nicht mehr vorstellen, was fromme Pilger früherer Zeiten erlebt haben, wenn sie an einen besonderen Ort gingen, vielleicht dorthin, wo es eine Reliquie gab, die auf besondere Weise die Verbindung zu dem früheren Geschehen herstellte.

Der Philosoph Charles Taylor sieht in dem Verlust des Zaubers, der über der mittelalterlichen Welt lag, den größten Unterschied zwischen der damaligen und der heutigen Zeit. Wer heute ins Heilige Land reist und erwartet, dort trotzdem noch etwas von dem Zauber der Erinnerung zu finden, muss fast zwangsläufig enttäuscht werden.

Wenn wir ehrlich mit uns selbst sind, dann ist unser Zugang zum Gottesgeschehen in der Regel nicht an einen Erinnerungsort gebunden. Uns spricht stattdessen ein Wort an, das wir lesen und betrachten, es trifft uns tiefer ins Herz als die Vergegenwärtigung eines früheren Geschehens. Mit dem Luther-Motto Sola Scriptura wird nicht nur die Einzigartigkeit der Bibel gegenüber jeglicher Tradition behauptet, Es wird ganz generell dem Geschriebenen, dem in Buchform Erschienenen, dem intellektuell Zugänglichen ein sehr viel größerer Wert gegeben als dem Bildhaften und Erinnerten.

Mein frommer Vater kehrte in den 60er Jahren ein wenig enttäuscht von seiner ersten Israelreise zurück und konnte nur wenig Erfreuliches von den mit Souvenirständen zugebauten Erinnerungsorten berichten. Jesus war an diesen Orten nicht. Es war oft nicht einmal sicher, dass er jemals dort gewesen war. Und wenn man sicher wäre – was würde es heute bedeuten?

Trotzdem hatte ich in Israel häufig die Worte des alten Papstes Benedikt XVI. im Kopf, der in seinen Jesus-Büchern aufgezeigt hat, dass unser christlicher Glaube ganz fest und real in der Menschheitsgeschichte verwurzelt ist. Jesus ist als konkret erkennbarer Mensch über die Welt gegangen und hat an den Orten, an denen er den Menschen begegnet ist, eine große und für viele von ihnen lebensverändernde Wirkung entfaltet. Er war nicht, wie einige Interpreten es uns glauben machen wollen, ein Wanderprediger unter vielen, der dann später von seinen Nachfolgern zu einem Religionsstifter hochstilisiert wurde.

Der englische Satiriker Malcolm Muggeridge, der in seinem Leben eine späte Bekehrung erfuhr, ist aus Israel zurückgekehrt und hat geschrieben:

Yet still there is something else, something that, searching my heart, I find very difficult to express in words [...] Whatever it may be called it came to pass in Galilee. A new dimension was added to a mortal existence; a new freedom, not for a tiny elite, not based on institutions of propositions, but burgeoning in each human heart and needing only to be allowed to grow.**

Ja, es ist etwas Neues geworden. Man erinnert sich am See Genezareth gerne daran. Aber es will immer wieder aufs Neue in lebendige menschliche Herzen hinein geboren werden..


* das Wort "entzauberte Welt" geht auf Max Weber zurück
** Übersetzung: Dennoch gibt es noch etwas anderes, etwas das, wenn ich mein Herz erforsche, ich als sehr schwierig empfinde, in Worten auszudrücken ... Was auch immer es genannt wird, es hat sich in Galiläa begeben. Eine neue Dimension wurde zu einer sterblichen Existenz hinzugefügt; eine neue Freiheit, nicht für eine winzige Elite, nicht auf Institutionen oder Lehrsätzen beruhend, sondern in jedes menschliche Herz gesät und nur auf die Erlaubnis wartet zu wachsen.

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