Schlosskirche Wittenberg Hier sind Luther und Melanchton zusammen mit Friedrich dem Weisen begraben |
Die
beiden für die Entwicklung des deutschen Protestantismus sehr wichtigen
Universitäten sind heute als „Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg“ zusammengefasst und liegen im Bundesland Sachsen-Anhalt. Sie haben eine sehr unterschiedliche Geschichte.
Wittenberg
an der Elbe war lange Zeit eine sächsische Stadt, teilweise sogar die
Residenzstadt der sächsischen Landesherren. Zu Luthers Zeiten regierte hier der
sächsische Kurfürst Friedrich der Weise. Dieser Friedrich hat Luther zwar nie gesehen, geschweige denn ihn an seinen Hof
eingeladen, ihn aber auf vielfältige Weise vor dem Papst in Rom geschützt. Friedrichs Verhältnis zu Luther muss dem Verhältnis der Kölner zu Karl
Marx ähnlich gewesen sein: man hatte eine Abneigung gegen die Zentralgewalt (in
Sachsen gegen Rom, in Köln gegen Preußen) und unterstützte deshalb gerne auch durchaus radikale Menschen, die sich mit dieser Gewalt überwarfen.
Die
Universität in Wittenberg war 1502 bereits vor der Reformation gegründet
worden, als erste Universität nach der "sächsischen Teilung". Diese
Teilung lief darauf hinaus, dass grob gesagt der Bereich des heutigen
Sachsens dem Vater Friedrichs des Weisen zufiel, während sein Onkel in etwa den
Bereich des heutigen Thüringens bekam.
Luther
und Melanchthon wurden an die Universität Wittenberg berufen, noch bevor sie
reformatorische Tätigkeiten entwickeln konnten. Von daher kann man sich die Vorgänge um
den Kern der Reformation als etwas sehr Universitäres vorstellen. So waren etwa die 95 Thesen an der
Tür der Schlosskirche in Latein verfasst und sollten zur Vorbereitung auf
eine gelehrte Disputatio dienen. Man wundert sich, wie gebildet die Deutschen
gewesen sein müssen, die das alles begierig lasen (es wurde übersetzt, blieb aber ein sehr theoretischer Text) und ihre religiöse Grundeinstellung darüber änderten.
Die
Universität in Halle an der Saale wurde erst fast 200 Jahre später gegründet,
im Jahre 1694. Auch dies geschah als Akt eines jungen Staates, in
diesem Fall Preußens. Die Preußen hatten das lange Zeit erzbischöfliche Gebiet
um Halle herum 1680 erworben, und der damalige Kurfürst von Brandenburg, der
1701 der erste König von Preußen werden sollte, baute eine Universität.
Anders
als in Wittenberg waren die großen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und
Protestanten hier natürlich schon längst Geschichte. Was in Halle dagegen
begann, war die gemeinsame Entwicklung und auch Auseinandersetzung von Menschen
der Aufklärung und Menschen des Pietismus. Der einflussreiche Aufklärer Christian Wolff lehrte
in Halle als Professor, gleichzeitig predigte der eloquente Pietist August Hermann Francke hier und
gründete seine bahnbrechenden sozialen Einrichtungen, die in der Folge Muster für ähnliche Aktivitäten vieler
Christen in der ganzen Welt wurden.
Die
Pietisten, denen meine freikirchlichen Vorfahren erheblich näher standen als
dem für sie zu orthodoxen Reformator Luther, erhoben den Anspruch, Luthers
Lebenswerk um eine wesentliche zweite Komponente, eine menschliche, bereichert zu haben, nämlich um das praktische tägliche Leben mit Gott. Dass Gott jedem Gläubigen persönlich nahe war, jederzeit erfahrbar und besonders im Gottesdienst unter großer
innerer Erschütterungen erlebbar, das war bei Luther noch als Schwärmerei
abgetan worden.
Der
schwedischer Autor Enquist, der eine intensive freikirchliche Erziehung
genossen hat, beschäftigt sich in mehreren Büchern mit dem Pietismus und
hat sehr nachdrücklich über dessen Nähe zur Aufklärung geschrieben. Dabei steht
ihm in seinen Büchern die Stadt Halle immer als Bild des geistigen Begegnungsraums
der beiden Bewegungen vor Augen. Hier lebten Aufklärer und Pietisten sozusagen Tür an Tür.
Einmal sagt Enquist: ihre Gedanken drängten sich in manchen Menschen auf engstem Raum zusammen*. Gemeinsam war beiden die Durchdringung des Lebens mit vernünftigen und dem allgemeinen Nutzen dienenden Grundsätzen**.
Einmal sagt Enquist: ihre Gedanken drängten sich in manchen Menschen auf engstem Raum zusammen*. Gemeinsam war beiden die Durchdringung des Lebens mit vernünftigen und dem allgemeinen Nutzen dienenden Grundsätzen**.
Die
beiden Universitäten haben sehr unterschiedliche Entwicklungen genommen.
Wittenberg ist von Napoleon besetzt und 1814 geschlossen worden, Halle hatte
nach der Befreiung von den Franzosen die größere Universität, war aber auch im
deutschen Raum nicht unumstritten. Erst nach der deutschen Wiedervereingung wurden
auch die beiden Universitäten wieder zu einem neuen Leben erweckt
und firmieren jetzt unter einem gemeinsamen Namen. Die Fahrt von der einer
Stadt zur anderen beträgt etwa 80 km.
Vermutlich
freut sich auch der kanadische Philosoph Charles Taylor über das Enquist-Bild von Halle. Für ihn hat die Aufklärung den Glauben nicht widerlegt, auch wenn sie ihn offenkundig weithin in Randbereiche verdrängt hat. Sie hat laut Taylor die Grundprinzipien des Glaubens tief in die
Strukturen der menschlichen Gesellschaft eingewebt, so tief, dass man die Spuren des Glaubens heute fast
nicht mehr sieht und annimmt, ohne den Glauben auskommen zu können.
*
„Halle, das frühe 18. Jahrhundert, die bemerkenswerte Universität, die einst
das Zentrum der Aufklärung und des Radikalpietismus gewesen war, Halle, wo
Struensees Vater Theologe gewesen war und wo Herrnhuter und Aufklärer sich auf
engstem Raum gedrängt hatten.
Manchmal in ein und dem selben Menschen.“
Manchmal in ein und dem selben Menschen.“
„Lewis
Reise“ (2003) Seite 525/526
** "Es handelte sich um die Franckesche Richtung des Pietismus, die unter dem Einfluss des Vernunftstrebens, das zu dieser Zeit die Universität in Halle prägte, den gesellschaftlichen Nutzen stark betonte."
** "Es handelte sich um die Franckesche Richtung des Pietismus, die unter dem Einfluss des Vernunftstrebens, das zu dieser Zeit die Universität in Halle prägte, den gesellschaftlichen Nutzen stark betonte."
"Der Besuch des Leibarztes" (2004) Seite 113/114
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