Montag, 16. Oktober 2017

Aufklärung für alle


Immanuel Kant
Im Gespräch mit einer Studentin, die mehrere freiwillige Auslandseinsätze in Asien und Afrika hinter sich hatte, waren wir uns schnell darüber einig, dass unsere aufgeklärten Vorstellungen von technischen Standards und TÜV-orientierten Ordnungen in vielen Teilen der Welt als überflüssig angesehen werden. Deshalb tun wir gut daran, unsere Maßstäbe nicht überall als Spitze des evolutionären Fortschritts der Menschen zu verkünden.*

Meine weltgewandte Gesprächspartnerin und ich kamen dann darüber ins Gespräch, ob auch andere Früchte der westlichen Aufklärung zur Disposition stehen, wenn wir in Kontakt mit fremden Kulturen kommen. Muss etwa der Islam tatsächlich die Aufklärung noch über sich ergehen lassen, wie viele westliche Beobachter behaupten?

Hier gingen unsere Gedanken ein wenig auseinander, und ich stelle sie deshalb hier einmal zur Diskussion. Die Studentin sagte, dass etwa die Gleichstellung von Mann und Frau eine aufklärerische Errungenschaft sei, die überall auf der Welt zur Geltung gebracht werden sollte. Es sei nicht einsehbar, warum Mädchen in bestimmten Teilen der Welt nach der Schule noch Arbeiten in der Küche übernehmen müssen, während ihre Brüder bereits über ihren Heften und Büchern sitzen und für die Schule üben.

Ich habe vorsichtig eingewandt, dass die traditionelle Rollenteilung zwischen Mann und Frau in manchen fremden Gesellschaften möglicherweise doch sinnvoll und gerecht ist, etwa weil sie durch männliche Zusatzleistungen in Balance gehalten wird, die zwar nicht unmittelbar am Nachmittag in der Küche sichtbar sind, auf die Dauer aber trotzdem zu einem Gleichgewicht der Pflichten beitragen.

Wir haben die Sache nicht bis zu Ende diskutiert, deswegen frage ich einmal hier: ist es tatsächlich notwendig, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in allen Teilen der Welt zu proklamieren und dabei andersartige Vorstellungen von einem Ausgleich zwischen den Geschlechtern, den Generationen und auch zwischen den Einkommensklassen abzulehnen?

Ich freue mich auf eure Meinung – entweder hier als Kommentar oder auch auf meiner Facebook-Seite.


*Ich füge hier ein, dass eine Amerikanerin, die zwei Jahre in der Türkei gearbeitet hat, diese Erkenntnis auf wunderbare Weise im Guardian beschrieben hat. Sie hat zwar nicht das Denken ihrer türkischen Gesprächspartner übernommen, aber ihre sichere Anschauung verloren, dass Amerika sich am oberen Ende eines evolutionären Spektrums befindet, und alle Leuten versuchen, daran Anschluss zu finden („atthe end of some evolutionary spectrum of civilisation, and everyone else wastrying to catch up.“)







2 Kommentare:

Ukko Elhob hat gesagt…

Guten Morgen Christian - diese Diskussion erinnert mich an ein Gespräch, dass ich zur vor-vorletzten Französischen Präsidentschaftswahl mit einem Kollegen führte. Es inspirierte mich zum Post: http://ukkoelhob.blogspot.be/2012/04/emancipation-from-europes-arabo-judeo.html.
mit herzlichen Gruss, Martin

Peter Oberschelp hat gesagt…

Evolutionärer Fortschritt:

Ich denke, „Fortschritt“ ist, ähnlich wie „Geschichte“ nur ein Versuch, der in keiner Weise auf unser Wohl bedachten, blind Möglichkeiten zur Komplexitätssteigerung nutzenden gesellschaftlichen Evolution einen uns genehmen Sinn zu verleihen. Alles hätte ganz anders kommen können, und wenn nach einer globalen Katastrophe nur die letzten von der westlichen Zivilisation noch nicht berührten Stämme im Amazonasbecken und in der Andamanensee überleben sollten, würde sich die Entwicklung hin zu Menschenrechten, Gleichberechtigung &c. nicht wiederholen. Ohnehin merkt ja jeder, daß unsere hohe Meinung von uns selbst ins Torkeln geraten ist. In Kurzfassung: Der Mensch denkt, Gott lenkt.