Im Gespräch mit einer Studentin, die mehrere freiwillige
Auslandseinsätze in Asien und Afrika hinter sich hatte, waren wir uns schnell
darüber einig, dass unsere aufgeklärten Vorstellungen von technischen Standards
und TÜV-orientierten Ordnungen in vielen Teilen der Welt als überflüssig
angesehen werden. Deshalb tun wir gut daran, unsere Maßstäbe nicht überall als
Spitze des evolutionären Fortschritts der Menschen zu verkünden.*
Meine weltgewandte Gesprächspartnerin und ich kamen dann
darüber ins Gespräch, ob auch andere Früchte der westlichen Aufklärung zur Disposition
stehen, wenn wir in Kontakt mit fremden Kulturen kommen. Muss etwa der Islam
tatsächlich die Aufklärung noch über sich ergehen lassen, wie viele westliche
Beobachter behaupten?
Hier gingen unsere Gedanken ein wenig auseinander, und ich
stelle sie deshalb hier einmal zur Diskussion. Die Studentin sagte, dass etwa
die Gleichstellung von Mann und Frau eine aufklärerische Errungenschaft sei,
die überall auf der Welt zur Geltung gebracht werden sollte. Es sei nicht
einsehbar, warum Mädchen in bestimmten Teilen der Welt nach der Schule noch
Arbeiten in der Küche übernehmen müssen, während ihre Brüder bereits über
ihren Heften und Büchern sitzen und für die Schule üben.
Ich habe vorsichtig eingewandt, dass die traditionelle Rollenteilung zwischen Mann und Frau in manchen fremden Gesellschaften möglicherweise
doch sinnvoll und gerecht ist, etwa weil sie durch männliche Zusatzleistungen in Balance gehalten wird, die zwar nicht unmittelbar am Nachmittag in der Küche sichtbar sind, auf
die Dauer aber trotzdem zu einem Gleichgewicht der Pflichten beitragen.
Wir haben die Sache nicht bis zu Ende diskutiert, deswegen
frage ich einmal hier: ist es tatsächlich notwendig, Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit in allen Teilen der Welt zu proklamieren und dabei andersartige
Vorstellungen von einem Ausgleich zwischen den Geschlechtern, den Generationen
und auch zwischen den Einkommensklassen abzulehnen?
Ich freue mich auf eure Meinung – entweder hier als
Kommentar oder auch auf meiner Facebook-Seite.
*Ich füge hier ein, dass eine Amerikanerin, die zwei
Jahre in der Türkei gearbeitet hat, diese Erkenntnis auf wunderbare Weise im
Guardian beschrieben hat. Sie hat zwar nicht das Denken ihrer türkischen Gesprächspartner übernommen,
aber ihre sichere Anschauung verloren, dass Amerika sich am oberen Ende eines evolutionären
Spektrums befindet, und alle Leuten versuchen, daran Anschluss zu finden („atthe end of some evolutionary spectrum of civilisation, and everyone else wastrying to catch up.“)
2 Kommentare:
Guten Morgen Christian - diese Diskussion erinnert mich an ein Gespräch, dass ich zur vor-vorletzten Französischen Präsidentschaftswahl mit einem Kollegen führte. Es inspirierte mich zum Post: http://ukkoelhob.blogspot.be/2012/04/emancipation-from-europes-arabo-judeo.html.
mit herzlichen Gruss, Martin
Evolutionärer Fortschritt:
Ich denke, „Fortschritt“ ist, ähnlich wie „Geschichte“ nur ein Versuch, der in keiner Weise auf unser Wohl bedachten, blind Möglichkeiten zur Komplexitätssteigerung nutzenden gesellschaftlichen Evolution einen uns genehmen Sinn zu verleihen. Alles hätte ganz anders kommen können, und wenn nach einer globalen Katastrophe nur die letzten von der westlichen Zivilisation noch nicht berührten Stämme im Amazonasbecken und in der Andamanensee überleben sollten, würde sich die Entwicklung hin zu Menschenrechten, Gleichberechtigung &c. nicht wiederholen. Ohnehin merkt ja jeder, daß unsere hohe Meinung von uns selbst ins Torkeln geraten ist. In Kurzfassung: Der Mensch denkt, Gott lenkt.
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