Dienstag, 31. Oktober 2017

Faust in Stuttgart



Gretchen, Mephisto, Faust vor Drehbühne
Ohne Goethes "Faust" ist das deutsche Theater nicht zu denken, und so gab es auch in diesem Jahr in Berlin und in Stuttgart zwei aufwändige Neuinszenierungen - in Berlin durch Frank Castorf, in Stuttgart durch Stephan Kimmig. In Berlin war schon mit der Überschrift im Programmheft die Richtung vorgegeben "Wie man ein Arschloch wird", in Stuttgart war die den alten Faust diffamierende Absicht weniger deutlich, wurde aber ebenfalls zielsicher erreicht - mit einem besonderen Hilfsmittel. 

Dieses bestand darin, dass man im zweiten Teil des Stücks ein von Elfriede Jelinek verfasstes "Sekundärdrama" mit einbaute, "FaustIn and out" genannt. Es solle "kläffend neben dem Klassiker“ herlaufen, sagte Jelinek dazu, und das geschah dann auch, manchmal sogar so laut kläffend, dass man den Klassiker kaum noch verstehen konnte.

Jelinek hat als gedankliche Verbindung zu Goethe das Thema des Missbrauchs der Frau durch den Mann gewählt und dafür das unglückliche Liebesverhältnis Fausts zu Gretchen mit der Geschichte des gräßlichen Josef Fritzl aus Amstetten in Österreich verbunden. Dieser Unmensch hielt zwischen 1984 und 2008 seine Tochter in einem Kellerverlies gefangen und zeugte mit ihr in diesen 24 Jahren sieben Kinder.

In Stuttgart wird die durch Verschiebung von Wänden immer wieder neu gestaltete drehbare Bühne am Ende zum Kellerverlies von Amstetten, in dem ein offenbar verrückt gewordenes Gretchen ihr Bett verzweifelt hin und her schiebt. Neben ihr steht der Schauspieler Elmar Roloff als Fritzl in langer Unterhose. Er war zuvor wechselnd als alter Goethe, zweiter Faust oder als Wagner aufgetreten und trug von Anfang an diese hässlich ausgebeulte Altmänner-Unterwäsche.

Die Gleichsetzung von Fritzl und Faust (und Goethe) beleidigt natürlich das
Josef Fritzl
klassische Verständnis der Goethe-Figur, die im Original noch eine zumindest in seinen Absichten ehrenwerte Person ist.

Nachdem mich die Einführung einer solchen Horrorfigur wie Fritzl zunächst abgestoßen hat, habe ich mich gefragt, ob sie nicht doch durch die alte Theorie des Aristoteles gedeckt ist, wonach das Theater "Jammer und Furcht" hervorrufen soll, um am Ende eine Reinigung der Erregungszustände zu bewirken. Zwar wurde ich den Verdacht nicht los, dass die Jelinek letztlich allen Männern im Publikum den feministischen Spiegel vorhalten und ihnen bedeuten wollte, in ihnen allen stecke ein Josef Fritzl. Aber im Sinne einer Katharsis wäre das vielleicht sogar erlaubt – man muss sich ja etwa mit dem Mordgeschehen in Macbeth nicht so identifizieren, dass man den Vorwurf auf sich selbst bezieht, insgeheim ein Mörder zu sein.

Vielleicht ist das Vorgehen der Jelinek durch Aristoteles gedeckt. Gefallen hat es mir aber trotzdem nicht. Das Stück zerfaserte am Ende in eine Kakophonie der verschiedensten Eindrücke, aus der nur noch gelegentlich singuläre Originalworte ("Heinrich, mir graut vor dir!") herauszuhören waren. Ein Kritiker schrieb, diejenigen Zuschauer seien im Vorteil gewesen, die den Originaltext kannten. 

Ohne Goethes „Faust“ kein deutsches Theater, sagte ich und ergänze: auch wenn man nur noch den zerstückelten Leichnam zeigt. Aber ob das auf Dauer gut geht? 

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