Mit großem Gewinn habe ich in den letzten Tagen das kleine Buch Der gestürzter Engel von Per Olov Enquist gelesen. Es hat am Ende einige Passagen, welche Dinge aussprechen, die fast unsagbar sind. Und weil diese unsagbaren Dinge an Gedanken und Überlegungen rühren, die ich schon einmal versucht habe, in der Beschäftigung mit Jesaja niederzuschreiben, will ich ein wenig von Enquists Buch berichten.
So wie der leidende Gottesknecht in Jesaja keine Gestalt noch Schöne hat (Jesaja 53,2 in altem Luther-Deutsch), so haben auch zwei Hauptfiguren des Buches, der mit zwei Köpfen geborene Pasqual Pinon und der junge Mörder, dessen Namen das Buch nicht nennt, Züge, die uns abstoßen. Und so wie der Gottesknecht mit seinem Leid bewirkt, daß andere Menschen Heil erlangen, so bringen auch die beiden abschreckenden Figuren am Ende der Geschichte eine Art von Versöhnung und Heilung in die Welt, die vor dem Hintergrund ihres Lebens sehr unglaublich erscheint und sich wie gesagt eigentlich kaum beschreiben läßt.
Pasqual Pinon, der Mexikaner mit dem Frauenkopf, der aus seiner Stirn herauswächst, eine historische, wenn auch von Enquist mit viel Fantasie ausgeschmückte Figur, wird zunächst lange Jahre als Attraktion eines Wanderzirkus herumgereicht. Am Ende findet er zu einer kleinen Sekte in der Nähe von Los Angeles. Deren Mitglieder sind allesamt verunstaltet - sind mit einer Reptilienhaut versehen oder wie ein Tier behaart, tragen Gesichtszüge wie ein Elefant oder ein Hund, und vieles mehr - und sie feiern dunkle Gottesdienste, denen vermutlich keine etablierte Kirche ihren Segen geben würde.
Aber sie feiern sie in einem besonderen Bewußtsein:
Sie waren damit betraut, die äußerste Grenze der Erde und des Menschen zu bewachen, als Verteidigung für die Geringsten. Sie verstanden jetzt, daß diese Monster in Wirklichkeit geschaffen waren als ein Glaubensbekenntnis an den Menschen, den heiligen Menschen, unkränkbar als Prinzip und daher ständig gekränkt, einzigartig, wie deformiert seine Gestalt auch immer sein mochte.
Und so wie die mißgestalteten Menschen in Los Angeles wider alle Äußerlichkeiten auf verquere Art und Weise den Glauben an den Menschen hochhalten, feiert auch ein Ehepaar in Schweden, das im Buch nur „K“ und „seine Frau“ heißt, die wiedergefundene Liebe zueinander, die zuvor auf grausame Weise gestört worden war.
Die Frau hatte sich eines Jungen angenommen, der ohne erkennbare Motive ein Kind ermordet hatte, der Junge bringt erneut und wieder ohne erkennbare Motive ein Kind um, die kleine Tochter von K und seiner Frau. Die Ehe der beiden zerbricht. Nach langem Zögern nimmt auch der Ehemann Kontakt zu den Jungen auf und findet schließlich eine Beziehung zu ihm. Diese geht jäh durch den Selbstmord des Jungen zu Ende.
Als Enquist (rechts ein Foto von ihm, er ist 1934 in Schweden geboren)zusammen mit K die Habseligkeiten des Jungen verpacken und an dessen Verwandte schicken will, findet er zu seiner Überraschung ihn und seine Frau versöhnt:
Und nun standen diese zwei Menschen, die ich seit 20 Jahren so gut kannte und die ich niemals verstanden hatte, und nicht ihre Liebe, vor allem nicht ihre Liebe, nun standen sie ganz still vor diesem entsetzlichen Hintergrund und umarmten sich. Ihr Kind war ermordet, sie hatten das geliebt, und der Junge, den sie auch geliebt hatten, war auch fort, und sie hatten versucht, Fragen nach dem grundlosen Bösen und nach der grundlosen Liebe zu stellen, aber keine Antworten gefunden.
Eine der Frauen in Enquist Roman notiert in ihr Tagebuch:
Ich sterbe glücklich, weil ich der einzige Mensch bin, der weiß, daß ich um meiner selbst willen geliebt worden bin.
Ein solcher Satz gehört sicherlich zum Gedankengut vieler frommer Menschen in der Welt. Insofern hat er vielleicht einen fast alltäglichen Klang. Bei Enquist sagt ihn allerdings eine kleinwüchsige, am ganzen Körper und auch im Gesicht abstoßend behaarte Frau, kurz bevor sie nach der Geburt ihres ersten Kindes, das ebenfalls nicht überleben kann, stirbt.
An dieser Stelle leuchtet etwas von der "grundlosen Liebe" auf, über die Enquist schreibt, und die vielleicht erst vor dem Hintergrund des grundlos Bösen und des grundlos Mißgestalteten ganz verstanden werden kann.
Zwischendurch notiert Enquist die Worte:
Agape: sich nicht der Vergebung verdient machen müssen.
2 Kommentare:
Jetzt weiß ich glaube ich, welches Buch ich mit in den Urlaub nehmen werde... oder empfiehlst du als Enquist "Einstieg" ein anderes Werk?
Den Enquisteintrag kommentiere ich aus einiger Entfernung, eigenen Überlegungen nachgehend.
Ich glaube, bei Bernhard eine Wasserscheide gefunden zu haben, die Literatur von Geschreibe trennt. Bei Bernhard ist bekanntlich das Rundumgeschimpfe vordringliches Stilmittel, ein bevorzugtes Objekt der Wut ist die Stadt Salzburg. Auf die Ungerechtigkeit angesprochen, antwortet er (ich hab es auf Video): Ich weiß nicht, was die Leute wollen. Soll ich mich denn hinsetzen und schreiben, Salzburg ist schön? Das weiß doch eh jeder.
Das weiß doch eh jeder – ich glaube, das ist eine der treffendsten Definitionen von Trivialliteratur und zugleich der Stoff, aus dem Bestseller gemacht werden. Aber zu der Scylla gibt es natürlich auch eine Charybdis. Wer auf sich hält, versucht etwas besonderes zu machen, und 90% zieren und verrenken sich dabei: eigentlich noch schlimmer. Es bleibt also nur die kleine Zahl derjenigen, die uns mühelos, wahrscheinlich sogar gezwungen von ihren Dämon etwas Unbekanntes, Besonders schenken.
Was berechtigt mich, diese Überlegung hier anzuknüpfen? Nun, zur sprachlichen Einübung ins Schwedische habe ich einige der bestsellenden Krimis gelesen, Mankell et al., und ich kann bestätigen: Scylla, das alles weiß doch eh jeder. Enquist habe ich ein wenig in Richtung Charybdis in Erinnerung, aber ich will es wohl noch einmal versuchen.
Weil Du den schwedischen Originaltitel nennst: Das Schwedische steht, mit den anderen skandinavischen Sprachen, auf einer bestimmten linguistischen Richterskala auf der untersten Stufe. Es kann keine Diminutativa bilden und unterscheidet sich damit kraß z.B. vom Italienischen, Gälischen oder Litauischen, die über ganze Reihen sich jeweils überbietender Verkleinerungsmorpheme verfügen. Das Hochdeutsche nimmt, wie ich denke, einen guten Mittelplatz ein, das Alemannische tendiert eher nach oben. Wie sieht es mit dem Türkischen aus?
Lgm pb
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