Erster Versuch einer Annäherung
Nachdem ich vor etwa zwei Jahren den Koran mit den Augen der Liebe gelesen habe (damals mit den Augen meines Freundes Nureddin Öztaş) , möchte ich jetzt einen zweiten Versuch starten, auch die weltweite Bewegung mit den Augen der Liebe verstehen zu lernen, die sich hinter dem Wort Emerging Churches verbirgt. Diesmal sind es die Augen meiner Töchter Judith und Carolin und meines Schwiegersohnes Johannes, mit denen ich das sehen will, was mit diesem Wort zu tun hat. Sie interessieren sich schon seit längerer Zeit für Emerging Churches, lesen Bücher, besuchen Konferenzen und vieles mehr.
Meine erste Annäherung beginnt über die lateinische Sprache: Emergo heißt dort in der Grundbedeutung "ich tauche auf", auch das englische Wort emerge, das mehrere Bedeutungen haben kann, heißt zunächst einmal ebenfalls "auftauchen". Wenn sich verschiedene neue christliche Bewegungen mit diesem Wort identifizieren, dann wollen sie offenkundig einen eher fließenden Gegensatz zu dem bilden, was seit längerer Zeit festen, zu festen Bestand hat. Sie wollen das in Frage stellen, was vielleicht früher ebenfalls einmal frisch aufgetaucht ist, dann aber feste und harte Strukturen angenommen hat.
Mit den Augen der Liebe gesehen, steckt in dieser Bewegung eine Rückkehr zu den Quellen, also zur Urgemeinde, die ja ebenfalls fast wie aus dem Nichts aufgetaucht und zu einer großen verändernden Kraft in der Welt geworden ist. Christen haben sich immer wieder nach der Zeit geshnt, in der es in der Urgemeinde eine frische Dynamik gegeben hat, die dann später wieder verloren gegangen ist. Die ersten Christen standen nach den Berichten der Apostelgeschichte bei ihren Nachbarn in hohem Ansehen, pflegten ein sehr stark kommunitäres Leben, konnten teilweise auf übernatürliche Kräfte zurückgreifen und führten insgesamt ein Leben, das sie für Außenstehende sofort als geisterfüllte Christen kenntlich machte.
Einen Teil dieser Attraktivität der ersten Christen möchten auch die Menschen der Emerging Churches neu wiederbeleben. Für sie steht das verkrustete Wesen der über die Jahrhunderte entstandene Amtskirchen diesem aber entgegen. So lese ich es zumindest aus dem recht ausführlichen Wikipedia-Artikel (englisch, der deutsche Artikel ist kürzer und weniger informativ).
Es ist hier viel von soziologischen Fachbegriffen die Rede, die mich eher abschrecken. Dekonstruktion, kontextuelles Verständnis, narrative Interpretation - ich ärgere mich hier zunächst einmal über meine eigene Unbildung und scheue den langen Weg, den es mich kosten wird, sie zu beseitigen. Außerdem frage ich mich immer, ob nicht ein einfaches Wort aus der allgemeinen menschlichen Erfahrung ausreichen würde.
Das gilt etwa für das kontextuelle Verständnis. Wenn ich mich allerdings bemühe, den Begriff zu verstehen, dann eröffnet er eine interessante Perspektive. Es geht um das Verständnis eines Menschen, der neu zum Glauben kommt und als Kontext sein eigenes Leben mitbringt. Das Problem ist auch den "alten" Christen bekannt. Gerne gestehen sie dem neuen Gläubigen zu, daß er seinen Glauben im Kontext seines Berufes lebt und etwa ein bäuerlicher Christ wird oder ein akademischer. Eher zögerlicher sind sie, wenn er religiöse Vorprägungen mitbringt und etwa ein anglikanisch oder orthodox geprägter Christ bleibt, auch wenn die neue Kirche, zu der er sich hält, eher baptistisch und charismatisch geprägt ist. Ablehnend werden sie, wenn er aus dem blanken Heidentum kommt, aber alte Anschauungen - etwa die einer durch Geister belebten Natur - mit in seinem neuen Glauben übertragen will. Hier sind die Emerging Churches wohl offener und vertrauen der Kraft des Glaubens an Gott, daß er neue Formen eines "emerging faith" (ich weiß nicht, ob man das Wort benutzt) durch die Nähe zu Gott auf den richtigen Weg bringt.
In gewisser Weise ist der Weg über den Kontext ja tatsächlich der einzige Weg, einen modernen Menschen überhaupt für den Glauben zu gewinnen. Das sehen viele moderne Christen seit längerem ganz ähnlich. Dagegen ist der alte Weg der traditionellen Kirchen, den Menschen mit einer festen Dogmatik zu konfrontieren und ihm nur die Möglichkeit zu lassen, Ja oder Nein dazu zu sagen, in der Praxis immer wieder zum Scheitern verurteilt gewesen. Das muß man auch als Mitglied einer solchen alten Kirche selbstkritisch sagen. Ob man so weit gehen will, zu einer Dekonstruktion der alten Denksysteme zu kommen? Ich zögere etwas.
Ich möchte dies Zögern mit einem Eindruck verbinden, den ich beim erweiterten Googeln einiger der im Internet verwendeten Begriffe und Namen bekommen habe. Es ist der Eindruck, daß das Spektrum der unter dem Label Emerging Churches versammelten Menschen, um es vorsichtig zu sagen: ein wenig nach links tendiert. Das mag vielleicht daran liegen, dass die allererste Erwähnung des Wortes Emergent in dem englischen Buchtitel eines 1981 erschienenen Buch des deutschen Theologen Johann Baptist Metz vorkommt: "Emergent Church: Future of Christianity in a Postbourgeois World"
Der 1928 geborene Johann Baptist Metz ist ein katholischer Theologe und einer der wichtigsten Vertreter der Politischen Theologie. Leider habe ich nicht herausfinden können, wie das deutsche Original des obigen Buches heißt, aber sicherlich wird die Nähe einer Bewegung zu einer nach Meinung vieler Christen sich im linken politischen Geschäft verlierenden Theologie diese Bewegungen nicht für alle attraktiv machen.
Trotzdem könnte es sein, daß sie möglicherweise schärfer als andere die Probleme im Blick hat, die sich angesichts der vielen modernen Veränderungen auch für den Glauben stellen. Viele Christen spielen diese Probleme herunter und weisen darauf hin, daß das Evangelium einen ewige und universelle Gültigkeit hat. Das ist sicherlich richtig. Richtig ist aber auch, daß kluge und den Menschen zugewandte Prediger auch schon in früheren Zeiten einen Unterschied gemacht haben, ob sie z.B. zu einer bäuerlichen oder zu einer städtischen Gemeinde sprachen. Allein die Auswahl der Beispiele ist unterschiedlich, aber auch das Wissen um die speziellen Anfechtungen und Sünden der Gemeinde (laut Spurgeon eine der notwendigen Hauptkenntnisse jedes Predigers) wird jeden guten Seelsorger dazu bringen, auf den Kontext seiner Zuhörer einzugehen.
Vielen Kirchen wird in diesen Tagen recht schmerzhaft deutlich, daß ihre Botschaft nur noch von einem verschwindend geringen Prozent- oder gar Promillesatz der Menschen ihrer Umgebung gehört wird. Das kann dazu führen, dass man alte Gewissheiten dekonstruiert und neue Kontexte und neue Narrationen zur Kenntnis nimmt.
Ich will weiter lesen (Tochter Carolin hat mir das Buch A New Kind of Christianity von Brian McLaren empfohlen, ich hab es bestellt), freue mich aber natürlich auch über jede Erkenntnis, die mir ein persönlicher Kommentar hier im Blog vermitteln kann. Ich weiß, daß ich eine Reihe von Facebookfreunden habe, die sich schon länger als ich mit dem Phänomen der Emerging Churches beschäftigen. Schreibt mir was!
Ich verspreche jedenfalls, weiter zu forschen und von Zeit zu Zeit mehr darüber zu schreiben.
Sonntag, 28. November 2010
Emerging Churches
Sonntag, 21. November 2010
Gegen die Angst
Nach dem Brandanschlag vom 19. November auf die große Şehitlik-Moschee in Berlin bin ich über Facebook in ein Gespräch mit einem jungen deutschen Türken gekommen, einem strenggläubigen Moslem, der nach diesem Anschlag in der Angst lebt, daß wir jetzt vor einer Serie von ähnlichen Vorfällen stehen. Ich habe mich in unserem Facebook-Dialog dafür ausgesprochen, daß man eine solche Angst haben kann, sie aber nicht nach außen tragen sollte.
Hier im Blog kann ich etwas ausführlicher dazu schreiben und meinem Gesprächspartner zunächst einmal das Kompliment machen, daß gerade er, mit seiner akademischen Ausbildung und seinen sehr gewinnenden äußeren Umgangsformen, ein Mensch der Zukunft und ein besonderer Hoffnungsträger ist. An ihm kann man den vom Bundespräsidenten Wulff geäußerten Optimismus festmachen, daß der Islam auf ganz natürlichem Wege einen dauerhaften Beitrag zur deutschen Kultur liefern wird.
Ich mache ihm also Mut, ohne Angst öffentlich aufzutreten. Wer seine Angst öffentlich zeigt, verliert nach meinem Eindruck die Fähigkeit, in unserem Land dem notwendigen Optimismus den Weg zu bereiten. Es ist damit allerdings nichts gesagt über die reale Angst, die der junge Mann empfindet und die ich verstehe. Ich möchte mit ihm hier an dieser Stelle nur darüber reden, ob er sie nach außen zeigen soll oder nicht.
Ich habe in einer ersten spontanen Reaktion gesagt, er solle es wie ein Mensch machen, der Angst vor Hunden hat. Denen darf man diese Angst ja bekanntlich nicht zeigen, sonst werden sie aggressiv.
Später ist mir aufgefallen, wie ähnlich seine Angst vor dem Rassismus, wie er es ausdrückt, der anderen Angst ist, die spiegelbildlich in weiten Bevölkerungskreisen vor dem Islamismus herrscht. Wenn man beide Ängste parallel sieht, wird sofort deutlich, warum bestimmte Menschen diese beiden Ängste niemals zeigen sollten. Es sind die Menschen, welche die besondere Verpflichtung zu einer verantwortlichen und an der Zukunft unserer Gesellschaft orientierten Haltung übernehmen wollen. Aus dieser Haltung heraus sollten sie die Angst zu ihrer Privatsache machen und sollten statt dessen in der Öffentlichkeit mit ihrer gesamten Lebenshaltung ihr Vertrauen demonstrieren
Die Angst vor dem Rassismus vergrößert ja in dem Moment, wo man sie äußert, sprunghaft die Zahl der Verdächtigen. Wenn Wachsamkeit zum Gebot der Stunde wird, dann müssen alle Äußerungen der Menschen in meinem Umkreis besonders sorgfältig daraufhin untersucht werden, ob aus ihnen Rassismus spricht.
Die Menschen, hinter die hier ein Fragezeichen zu setzen ist, werden dann im nächsten Schritt in Sachen Rassismus von sich aus beweispflichtig. Was können sie anführen, um sich vom Vorwurf des Rassismus zu befreien? Diese Frage zu beantworten, ist aber für die Verdächtigen nicht immer erfüllbar. Es ist ja auch für Gutwillige nur ein kleiner Schritt, von der lieben Vertrautheit, mit der eigenen ethnischen Prägung geboren worden zu sein und es sich in einem Kreis von ähnlichen geprägten Menschen bequem gemacht zu haben, hin zur Erkenntnis zu gelangen, daß diese Prägung ein Vorteil sein könnte. Und dann ist es nicht mehr weit, den subjektiven Vorteil zu einer objektiven Überlegenheit zu machen. So steckt eine mögliche Wurzel für Rassismus in jedem von uns.
Nun bringen die Frage der Beweispflicht und die praktischen Schwierigkeiten, die notwendigen Beweise überhaupt erst zu erbringen, den, der Angst vor Rassismus hat, zwangsweise in die Situation, daß er sein Mißtrauen verstärken muß. Wem kann er überhaupt trauen? Gleichzeitig läßt die Beschäftigung mit dem aufgeworfenen Fragen im Fragenden selbst ein moralisches Überlegenheitsgefühl wachsen, das ihn schnell zu einer weithin gefürchteten moralischen Kontrollinstanz macht.
Wenn er dann nach einigen Jahren feststellen muß, daß es aufgrund rassistischer Vorfälle zwar eine Reihe von äußerst häßlichen Übergriffen gegeben hat, daß in der Folge aber der Schaden wesentlich geringer war als etwa der Schaden infolge Trunkenheit am Steuer oder infolge des allgemeinen Anstiegs der Kriminalität, wird er in der Regel keinen Weg mehr finden, um aus seiner mittlerweile festgefügten Rolle als Moralist wieder herauszukommen.
Die Folgen einer Angst vor dem Islamismus sind denen der Angst vor dem Rassismus sehr ähnlich. Auch die Angst vor dem Islamismus vergrößert sprunghaft die Zahl der Verdächtigen. Letztlich sind alle Muslime, auch die mir persönlich bekannten und offenkundig freundlichen und friedlichen, in ihrer Gesamtheit verdächtig. Sie müssen sich fragen lassen, ob sie sich nicht letztlich allesamt an feindselige Vorgaben halten müssen, die sie aus dem Koran beziehen.
Auch hier kann sich niemand wirksam gegen diesen Verdacht wehren. Es wird immer einen Islamexperten geben, der aus dem Koran oder den kulturellen Gegebenheiten der Muslime den Nachweis führen kann, daß in jedem Gläubigen ein Terrorist steckt.
In der Folge wird auch der Mensch, der vor dem Islamismus Angst hat, sein Mißtrauen verstärken müssen. Und auch er wird in seinem Herzen die eher angenehmen Folgen daraus spüren, die ihm in seiner näheren Umgebung den Ruf verschaffen, ein herausragender Moralist zu sein. So wird er sich dauerhaft in die Rolle als Mahner und Warner einrichten.
Beide Lebensformen der Angst sind mit meinem Ideal eines verantwortlichen und mutigen Lebens nicht vereinbar. Zu einem solche Leben sind alle diejenigen unter uns aufgerufen, die eine Vision haben, wie eine Gesellschaft der Zukunft aussehen könnte, in der soziale, religiöse und ethnische Unterschiede den Frieden und Wohlstand dieser Gesellschaft nicht stören sondern befördern.
Dienstag, 16. November 2010
Alter Mann, beschwerliche Reise
Über das neue Buch The Masque of Africa von V.S.Naipaul
Beim Lesen der Reiseberichte von V.S.Naipaul ist es mir immer so vorgekommen, als ob seine braune Hautfarbe in den Ländern Asiens und Südamerikas wie eine freie Eintrittskarte zur Welt der dort lebenden Menschen gewirkt haben muß. Man erzählt ihm, dem auf Trinidad geborenen Nachfahren indischer Einwanderer, immer sehr viel mehr als dem weißen Mann, der mit einem vorgeschobenen journalistischen oder wissenschaftlichem Interesse der Länder bereist und am Ende doch nur wieder erzählt, wieviel besser es bei ihm zu Hause zugeht. Schlüpft man dagegen als Leser in Naipauls Haut, hört man mit seinem Ohren und sieht mit seinen Augen, dann erfährt man, so mein ständiger Eindruck, unendlich viel mehr als jeder durchschnittliche Europäer jemals erfahren würde.
Eigenartigerweise scheint diese Eintrittskarte in Afrika ihre Gültigkeit verloren zu haben. Naipaul hat den Kontinent in den letzten Jahren bereist und hat jetzt, nachdem er 78 Jahre alt geworden ist, einen Bericht über insgesamt fünf afrikanische Länder als Buch veröffentlicht. Ich habe das Buch wie alle Bücher Naipauls gerne gelesen, habe aber zu keinem anderen Buch eine solche innere Distanz empfunden, die mich am Ende ein wenig unzufrieden hinterlassen hat. Auf meine Frage, ob the old magic still works, ist meine Antwort ein vorsichtiges Nein.
Es gibt verschiedene äußere Gründe, warum Naipaul es in Afrika sehr viel schwerer hat als auf seinen früheren Reisen in Asien, Südamerika und den USA. Ganz wichtig erscheint mir zu sein, daß er nach seinem Nobelpreis im Jahre 2001 nicht mehr unerkannt reisen kann Er erfährt im Gegenteil von den Offiziellen der Gastländer eine Sonderbehandlung, die ihn an jedem Ort, den er besucht, fast wie einen Staatsgast erscheinen läßt.
In Albert Schweitzers Lambarene fliegt er mit dem Hubschrauber ein und wundert sich nach der Landung, daß in ihm und um ihn herum nicht die Stille eintreten will, die er erwartet hat, um den Ort auf sich wirken zu lassen (expose myself to the genius of the place). In Ghana wird er von dem früheren Präsidenten Jerry Rawlings privat empfangen und bekommt von dem nach wie vor sehr zupackenden Gardesoldaten eine Serie von polternden Lebensweisheiten mitgeteilt. Der Präsident begleitet sie jeweils mit einem Schlag auf das Knie von Naipaul (den Rawlings jovial Chief nennt). Naipaul läßt das Ganze sichtlich irritiert über sich ergehen, beschreibt es recht lebendig, kann aber aus der Unterhaltung nichts destillieren, was das Buch in irgendeiner Weise voranbringt.
Naipauls Thema sind die alten afrikanischen Kulte. Beeindruckend ist, wie er immer wieder die Trennlinie zwischen diesen Kulten und der Welt der modernen Aufklärung zieht, zu der für ihn die Muslime und Christen gleichermaßen zählen, die pfingstlerischen Rock-and-Roll-Churches eingeschlossen, die hier wie überall in der Dritten Welt wie Pilze aus dem Boden schießen. Bei allen diesen nicht-afrikanischen Glaubensrichtungen beobachtet er allerdings eine deutliche Angst vor den alten Kulten und beschreibt, wie selbst angesehene Prediger der aufgeklärten Religionen offen oder heimlich für den Beistand aus dem Forest sorgen, der nach Naipauls Eindruck überall vorherrscht und durch christliche oder muslimische Glaubensformen nur dünn überdeckt ist.
Ein wenig behindert ist Naipaul auch durch sein Alter, immerhin ist er 76 Jahre alt, wenn er zu diesen Reisen aufbricht. In einer Szene muß er einen Besuch im Forest, bei dem eine echte Begegnung mit Geistern offenbar unmittelbar bevorsteht, aufgrund seiner körperlichen Schwäche abbrechen.
Überhaupt ist er bei vielen Besuchern seltsam ängstlich. Ein immer wiederkehrendes Thema ist das Geld, welches die Medizinmänner und Wunderheiler regelmäßig von ihm oder seinen Begleitern verlangen. Offenbar ist allen Beteiligten klar, daß der berühmte Mann ein weiteres Buch schreiben und viel Geld dafür bekommen wird. Warum nicht daran partizipieren? Naipaul reagiert mit der Wut, die jeder kennt, der einmal in einem Taxi der Dritten Welt ein paar Euros mehr bezahlt hat als ein Einheimischer. Er bricht manche Termine einfach ab, wenn auch nur aus der Ferne droht , daß man ihn über den Tisch ziehen könnte.
Die wichtigste Behinderung für Naipauls Genie erscheint mir allerdings darin zu bestehen, daß sich die Geisterwelt des afrikanischen Forest jeder Art von Sprache entzieht. Anders als in den Ländern der Muslime oder Buddhisten ist in Afrika eine sprachliche Auseinandersetzung mit den zu beobachtenden Phänomenen kaum möglich. Afrika bleibt ein großes und starkes aber letztlich nicht verstehbares Land, in dessen Geschichte die Anwesenheit des weißen Mannes, seiner Worte und seiner Ideen wohl nur eine kurze Phase darstellen wird.
In Südafrika, der letzten Station seiner Reise, beklagt Naipaul, daß er nichts findet, was der weiße Mann an literarisch Verwertbarem hinterlassen kann. An dieser Stelle wünschte man sich, er würde seinen südafrikanischen Kollegen J.M.Coetzee zumindest erwähnen, der im Jahre 2003, zwei Jahre nach Naipaul ebenfalls den Nobelpreis erhielt. Auch Coetzee kapituliert nach meinem Eindruck vor der Macht des Forest. Aber bei ihm ist diese Kapitulation wenigstens ein Anlaß für die literarische Aufarbeitung. Bei Naipaul bleibt es dagegen nur bei einer Kette von Erlebnissen, die sich am Ende nicht zu einem Gesamtbild fügen.
Eigenartig berührt ist man von Fehlern in dem Buch. Es gibt an wenigstens fünf Stellen störende Wiederholungen (etwa der Hinweis darauf, daß sein Begleiter Mr. Richmond dänische Vorfahren hat), die auf mich den Eindruck machen, als habe Naipaul beim Zusammenfügen verschiedener Manuskripte zu wenig Korrektur gelesen und danach den Lektoren verboten, irgendwelche Änderungen am Buch vorzunehmen. Aus seiner Biographie weiß man, daß er sehr ungern lektoriert wird.
Ein alter Mann begibt sich auf eine beschwerliche Reise, das muß man ihm hoch anrechnen. Was er von dieser Reise mitbringt ist immer noch um Welten besser als mancher andere Reisebericht. Aber es hat nicht die alte Klasse eines Sir Vidiadhar Surajprasad Naipaul.
Montag, 15. November 2010
Ein kleines, großes Lied
Ein Bericht der New York Times über das Konzert eines lettischen Chores brachte mich auf die Spur des Liedes Put vejini, das der Chor im Lincoln Center als Zugabe gegeben hatte. Bei YouTube fand ich das Lied in einer Aufnahme vom lettischen Singfest 2008. Mit den blondgezopften Mädchen und ihren Blumenkränzen in den Haaren ist es auch für die Augen schön.
Das Lied ist eigentlich eher schlicht:
Wehe Windchen, treib das Schifflein, treibe mich nach Kurland hin.
Ihre Tochter, flink beim Mahlstein, bot die Kurländerin mir.
Bot sie wohl, doch gab sie mir nicht, schalt, ich sei ein Zecherbursch.
Schalt mich einen Zecherburschen,der sein Ross zuschanden ritt.
Welchen Krug hab ich geleeret, wessen Ross fiel unter mir?
Hab für eig'nes Geld getrunken, hab mein eignes Ross gejagt.
Wehe Windchen, treib das Schifflein, treibe mich nach Kurland hin.
Put, vejini, dzen laivinu, Aizdzen mani Kurzeme.
Kurzemniece man solija Sav' meitinu malejin’.
Solit sola, bet nedeva, Teic man’ lielu dzerajin'.
Teic man’ lielu dzerajinu, Kumelina skrejejin’.
Kuru krogu es izdzeru, Kam noskreju kumelin'?
Pats par savu naudu dzeru, Pats skrej' savu kumelin’
Put vejini, dzen laivinu Aizdzen mani Kurzeme.
Es wurde zu einem nationalen Symbol, nachdem die Russen den Letten nach 1945 das Singen der Nationalhymne verboten hatten, und die Letten Put vejini zur heimlichen Hymne erhoben.
Sonntag, 14. November 2010
Eine Predigt zu Römer 8
Die nachfolgende Predigt habe ich am heutigen Sonntag in der Gemeinde Bonn (EFG, Baptisten) gehalten und möchte hier für alle, die mehr über die Quellen meiner Auslegung erfahren wollen, einige Hinweise weitergeben.
Ein Freund hat mich vor etwa drei Jahren auf die Reihe "Paulus neu gelesen" des Frankfurter Theologen Norbert Baumert aufmerksam gemacht. Baumert hat seit etwa 1990 mit seinen Doktoranden, dem "Frankfurter Pauluskreis", alle 13 dem Paulus zugeschriebenen Briefe in einer sehr intensiven Feinarbeit durchgelesen, hat sie Wort für Wort und Buchstabe für Buchstabe neu ins Deutsche übertragen und im Ergebnis zunächst von allen Briefen eine neue Arbeitsübersetzung hergestellt.
Seit 2006 ist Baumert dann hergegangen und hat zunächst den 1. Korintherbrief vollständig kommentiert (in dem Buch "Sorgen des Seelsorgers"), dann den 2. Korintherbrief ("Mit dem Rücken zur Wand") und als drittes dann Galater und Philipper ("Der Weg des Trauens"). Der Kommentar zum Römerbrief soll 2011 folgen - so Gott will, muß man sagen, denn der Verfasser wird im Jahr darauf 80 Jahre alt.
Das Konzept Baumert ist es, die Briefe aus ihrer jeweiligen Situation zu verstehen. Dabei hat sich sein Pauluskreis oft als sehr kreativ erwiesen, was das Verständnis für die fast 2000 Jahre zurückliegenden Geschehnisse in der alten Welt betraf. Liest man Paulus als den sorgenden Seelsorger, der bereit ist, jedem einzelnen Mitglied seiner damals noch eher kleinen Gemeinden nachzugehen, dann entsteht das Bild eines von Herzen liebenden Hirten und nicht das eines großen Kirchenlehrers, der mit donnernder Stimme letztgültige Anordnungen zur Gestaltung des Gottesdienstes, der Rolle der Frauen etc. trifft.
Zwar bleibt der Charakter der Letztgültigkeit, aber sie wird anders, feiner gesehen und jederzeit von des Apostels menschliche Wärme und Hingabe an seine jungen Christen getragen.
Hier nun mein Versuch, den Abschnitt Römer 8,Verse 18 bis 23 ein wenig in das Licht Baumerts zu bringen, ohne seine Römerauslegung zu kennen. Übrigens ist Baumert katholisch und gehört der charismatischen Bewegung an.
1. Einleitung
Ein Bibelabschnitt aus dem Brief des Paulus an die Römer soll heute im Zentrum unseres Gottesdienstes stehen. Er wird heute gleichzeitig in vielen anderen Kirchen unseres Landes gelesen und bedacht. Er ist ein Teil des Predigtplans mit der Perikope des jeweiligen Sonntags, an den sich viele Gemeinden halten, und es ist besonders für Laienprediger wie mich eine gute Sitte, sich ebenfalls an diesen Plan zu halten. Man muß sich mit neuen Dingen beschäftigen, nicht nur mit seinen Lieblingsthemen.
So habe ich, als ich vor einigen Monaten für diesen heutigen Sonntag bestimmt wurde, die Perikope nachgesehen und den Abschnitt aus Römer 8 gefunden und nachgelesen. Ich habe das mit ein wenig Herzklopfen getan, denn ich habe vor dem Römerbrief einen großen Respekt. Der Römerbrief hat ja an den Knotenpunkten der christlichen Geschichte immer wieder eine entscheidende Rolle gespielt, bei der Reformation Martin Luthers, bei der englischen Erweckungsgeschichte um den Methodisten John Wesley, beim Neuanfang der deutschen Kirchen nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und Karl Barth, dem späteren Bonner Professor. Immer wenn man die Notwendigkeit einer Veränderung der Kirche spürt, forscht man gerne in diesem Brief und sucht darin Rat. So ist er im Laufe der Zeit ein besonders herausragender Brief für die Christen geworden.
Auch ganz persönlich kann man im Römerbrief nach Rat und nach Erneuerung suchen. Viele von Ihnen werden es getan. Sie werden dabei entdeckt haben, daß man sich in diesem Brief wie in einem Gebirge großer Gedanken wiederfindet. Man kann sich leicht darin verirren, so ist es mir jedenfalls oft ergangen.
Trotzdem will ich mich also gemeinsam mit ihnen in dieses Gebirge wagen! Ich habe mich bemüht, einen einfachen Weg zu finden und möchte ihn in drei Abschnitte aufteilen. Der erste beginnt mit einem Blick auf eines der schönsten und lebendigsten Bilder der ganzen Bibel, das Bild von der sehnsüchtig harrenden Schöpfung.
18 Denn ich denke, daß die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.
19 Denn das sehnsüchtige Harren der Schöpfung wartet auf die Offenbarung der Söhne Got-tes.
20 Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen worden - nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat - auf Hoffnung hin,
21 daß auch selbst die Schöpfung von der Knechtschaft der Vergänglichkeit frei gemacht werden wird zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes.
22 Denn wir wissen, daß die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Geburts-wehen liegt bis jetzt.
23 Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst und erwarten die Sohnschaft; die Erlösung unseres Leibes.
2. Erster Wegabschnitt
Man darf das zentrale Wort Schöpfung, das hier gebraucht wird, allumfassend verstehen. Nicht nur die Menschen warten sehnsüchtig, auch die Tiere im Wald und die Bäume und die Blumen. Alles, was lebt, hat eine Ahnung davon, daß es ein zwangsläufiges Ende haben muß mit seinem Leben, und es stemmt sich mit seiner ganzen Lebenskraft gegen dieses Ende und gegen den Verfall. Der Baum trotzt Jahre und Jahrzehnte dem Wind, das Tier richtet sein ganzes Leben so ein, daß es den Verfolgern entkommt, die Blume nutzt jeden Tropfen Wasser und jede Minute Sonnenschein, um ihre Schönheit zu erhalten, aber am Ende fällt der Baum und stirbt das Tier und verwelkt die Blume.
Paulus gibt allen Kreaturen eine Persönlichkeit (ich weiß nicht, ob es eine andere Stelle in der Bibel gibt, die das in gleicher Weise tut), und er sagt: alle Kreaturen schauen zu uns Menschen herüber und fragen uns, wann denn nun endlich die Zeit der Erlösung gekommen ist, die Zeit der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, wie Paulus es ausdrückt.
Welcher Art ist diese Freiheit? Es ist das Ende der Vergänglichkeit. Paulus sagt, das Ende der Knechtschaft der Vergänglichkeit. Die Herrlichkeit besteht also aus der Unvergänglichkeit. Darauf wartet die gesamte Schöpfung. Und Paulus sagt: auch wir warten sehnsüchtig, und das ganz unabhängig von den vielen hoffnungsvollen Dingen, von denen vorher im Brief die Rede war. Selbst die schönsten Gaben Gottes helfen uns letztlich nicht gegen unsere Sehnsucht auf Unvergänglichkeit. Sie ist die letzte Gabe, und wir besitzen sie noch nicht. Und so wünschen wir uns zusammen mit aller Kreatur, daß wir von der Sklaverei befreit werden, die uns unerbittlich mit jedem Vorrücken der Uhr einen Teil unseres Lebens abschneidet.
Ich denke, an diesem Bild können wir zunächst einmal alle stehen bleiben und sagen: ja es ist so. Wir alle seufzen, wir leiden, vermutlich unterschiedlich, jeder auf seine Weise. Wir leiden an der Vergänglichkeit unseres Körpers und unseres Lebens. Ich als 61jähriger empfinde das viel stärker als ein zehnjähriges Kind. Aber ich weiß noch, auch damals in meiner Kinderzeit habe ich etwa das näherrückende Ende der Schulferien wie einen dunklen Bann über meinem Leben empfunden, fast wie einen Fluch. Und meine Sehnsucht war es, eine Welt zu haben, in der nicht immer alles aufhört, wenn es am schönsten ist.
Auch das Leiden an manchem Elend in der Schöpfung um uns herum gehört in diese Sehn-sucht mit hinein. Wir werden nicht gerne daran erinnert, daß allein im jetzt zu Ende gehen-den Jahrzehnt in zwei großen Katastrophen, dem Tsunami von Weihnachten 2004 und dem Erdbeben in Haiti vom 12. Januar diesen Jahres etwa 500.000 Menschen teilweise qualvoll ums Leben gekommen sind. Das hat manchem den einfachen Glauben an eine Welt, in der Gott alles so herrlich regieret, wie wir es in einem schönen Lied singen, erschüttert, mir ehrlich gesagt auch. Es hat auf jeden Fall bei allen, die nachdenken, diese Sehnsucht neu angefacht, von der Paulus spricht, die Sehnsucht nach einer Welt, in der es kein Ende mehr gibt und in der deshalb solche Qual nicht mehr sein muß.
Deshalb meine ich, daß wir uns um dieses Wort sammeln können - mit durchaus unter-schiedlichen Gefühlen – aber trotzdem zunächst einmal sagen können, daß wir ihm zu-stimmen, ja, daß es in unserem Herz etwas aufweckt, das uns bereit macht, weiteres aus dem Brief des Paulus zu hören.
3. Zweiter Wegabschnitt
Damit komme ich zu meinem zweiten Wegabschnitt. Ich will hier fragen, warum uns Paulus auf dieses sehnsüchtige Warten aufmerksam macht. Dazu muß man das lesen, was er den Römern in den vorangegangenen Abschnitten gesagt hat. Ich lese zunächst die unmittelbar vorangehenden Verse:
15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Knechtschaft empfangen, wieder zur Furcht, sondern einen Geist der Sohnschaft habt ihr empfangen, in dem wir rufen: Abba, Vater!
16 Der Geist selbst bezeugt zusammen mit unserem Geist, daß wir Kinder Gottes sind.
17 Wenn aber Kinder, so auch Erben, Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir wirklich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden.
Es ist nicht leicht, den Weg mit wenigen Worten zusammenzufassen, den Paulus über die ersten acht Kapitel geht. Ich sagte schon, es ist ein Gebirge von Gedanken. Zu sehen ist aber, daß er mit diesem achten Kapitel zu einem Abschluß kommt, um dann im neunten Kapitel ein neues Thema – Israel – zu beginnen.
Was ist dieser Abschluß? Nun, wir lesen etwas von der großen Herrlichkeit am Ende der Zeiten, in der wir mit hineingenommen werden in den Reichtum Gottes. Erben Gottes! Das ist ein großes, erhabenes Wort, das man getrennt von den anderen Worten nicht einmal leicht aussprechen kann. Und vor dem Hintergrund dieser Herrlichkeit sind die Leiden der Gegenwart erträglich, ja fast ein Nichts.
Dies erscheint mir die zentrale Botschaft des Paulus zu sein. Und bei dieser letzten Aussage könnte Paulus es auch fast bewenden lassen, wenn er in seinen Briefen nur einem einzigen roten Faden folgen würde. Ich gestehe, daß ich bei der Vorbereitung diesen roten Faden gesucht habe, daß ich ihn aber immer wieder aus den Augen verloren habe. Das kann einem ja bei den Paulusbriefen leicht so gehen, und manchmal legt man sie sogar mit der etwas hochmütigen Einschätzung zur Seite, daß der gute Apostel bisweilen ein etwas sprunghafter und unsystematischer Kopf war.
Vielleicht kann ich an dieser Stelle etwas Allgemeines zu der Art und Weise sagen, wie wir die Briefe des Paulus lesen. Man kann sich sehr leicht zu einem falschen Urteil verleiten lassen, weil man allgemein an die Paulusbriefe den hohen Anspruch erhebt, daß sie große, weltbewegende Anordnungen eines großen Denkers der Christenheit sind. Das ist zwar sicherlich richtig, und man darf sie, man muß sie vielleicht sogar so verstehen, nachdem sie 2000 Jahre lang ja tatsächlich auch so gelesen wurden und in ihrer Wirkung immer noch nicht am Ende sind.
Aber man darf sie gelegentlich auch einmal als die vergleichsweise kleinen Briefe an eine kleine Empfängerschar lesen, die sie ursprünglich einmal gewesen sind. Es ist denkbar, einiges weist darauf hin, daß die Gemeinden, die den jeweiligen Brief lasen, anfangs nur aus einigen wenigen Leuten bestanden haben, Hausgemeinden und Stubenversammlungen, die noch keine großen Häuser füllen konnten. Wenn man sie als solche Empfänger vor Augen hat, dann spricht ein anderer Paulus zu uns als der Weltphilosoph mit Jahrtausendwirkung. Es spricht ein um eine kleine Gemeinde besorgter Seelsorger, der die Situation, in der sich die Menschen dieser Gemeinde befinden, sehr genau kennt.
Und deshalb verläßt er jetzt also an dieser Stelle in Vers 17 den roten Faden von der Herr-lichkeit der freien Kindschaft und Gotteserbschaft und beginnt einen Seitenfaden.
Er baut etwas ein, was zunächst einmal wie eine Bedingung klingt: alles, was ich gesagt habe, gilt nur, wenn ihr Römer in ähnlicher Weise wie Jesus zu leiden bereit seid.
17 Wenn aber Kinder, so auch Erben, Erben Gottes und Miterben Christi, wenn wir wirklich mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden.
Wenn man das als ein Wort des Seelsorgers in eine konkrete Situation hinein liest, dann kann man fast das wenn weglassen, denn es steht aller Wahrscheinlichkeit nach fest, daß dieses Leiden den Römern unmittelbar bevorsteht, ja vielleicht sogar schon begonnen hat.
Paulus lebt, während er dies schreibt, bereits in den Zeiten, in denen sich die Christenver-folgungen unter Nero (die beginnen im Jahre 64, aber es hat bereits in den 40er Jahren Verfolgungen unter Claudius gegeben) ankündigen oder bereits im Gang sind. Und es wäre für einen Seelsorger vollkommen undenkbar, die große und erhabene Lehre von der Freiheit der Christen nicht auch mit einem realistischen Ausblick auf ihr bedrohtes Leben zu verbinden.
Paulus sagt den Römern nun also, daß die realen Leiden, die sich am Horizont ankündigen, die vielleicht sogar schon an die Tür klopfen, nichts sind im Vergleich mit der Herrlichkeit, die am Ende der Zeiten auf uns warten wird.
Wir heutige dürfen dabeistehen und zusehen, mit welcher Liebe ein praktischer Seelsorger seiner Gemeinde in einer Notsituation beisteht. Und für uns gewinnt dann das Bild vom sehnsüchtigen Warten der Kreatur eine neue Qualität. Es dient nämlich jetzt als eine Art Beweis dafür, daß es kein leeres Versprechen ist, wenn Paulus angesichts der sich gegenwärtig auftürmenden Not auf die zukünftige Herrlichkeit verweist.
Daß dieser Verweis einer Vertröstung sein könnte, das haben natürlich auch die Römer schon gewußt und gefürchtet. Sie mußten nicht auf Karl Marx warten, der den christlichen Glauben ja ganz allgemein vorgeworfen hat, er vertröste auf das Jenseits statt im Diesseits etwas zu ändern. Nein, unser Zweifel braucht nicht durch Karl Marx angefacht zu werden, er ist bereits so vorhanden. Und deshalb sucht Paulus eine Antwort auf ihre Bedenken und Zweifel.
Er findet diese Antwort und sagt: unsere Sehnsucht weist uns den Weg aus unseren Zwei-feln heraus. Unsere Sehnsucht beweist am Ende, daß unser Leben auf Gott und seine Ewigkeit hinausläuft. Die Sehnsucht nach Unvergänglichkeit kann nicht ins Leere gehen. Sie spricht aus den Herzen unzähliger Menschen - und Paulus sagt: auch aus der Seele der sprachlosen Kreatur - sie ist einer der stärksten Hinweise auf die Existenz Gottes, die wir kennen.
So sind wir also nicht nur gerufen, uns um ein schönes, eindrucksvolles Bild zu scharen, wir sollen vielmehr hinter diesem Bild spüren, wie es uns mit Macht zur Realität Gottes hin zieht.
4. Dritter Wegabschnitt
Hier will ich zum letzten Wegabschnitt kommen und einen roten Faden in unserem Abschnitt des Römerbriefes aufzeigen. Ich meine, daß der eigentliche rote Faden sich ganz am Ende zeigt, wo es heißt:
38 Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.
Dieser Satz ist einer der ermutigendsten Sätze der Bibel, und er hat Generation von Men-schen im Glauben gestärkt, besonders in dem Glauben, den wir alle eines Tages brauchen werden, wenn wir die letzten Schritte unseres Lebensweges gehen müssen. Es ist die Bot-schaft einer grenzenlosen Gewißheit, daß zwischen uns und Gott keine Macht der Welt auch nur eine Handbreit Platz erzwingen kann. Darf man annehmen, daß Paulus, der Seelsorger, seine gesamte Argumentation der ersten Kapitel auf diesen letzten Satz ausgerichtet hat? Ich meine: man kann!
Hören wir noch einmal genau hin: was ist es, von dem nichts uns trennen kann? Ist es die Macht Gottes, seine Weisheit oder Gerechtigkeit oder Gegenwart? Nein dieser Abschnitt spricht am Ende zentral von der Liebe Gottes. Auf sie läuft am Ende alles hinaus. Sie hält die Welt in ihrem Bestand zusammen, sie ist der Urgrund unserer Existenz, zu ihr kehren wir eines Tages zurück.
5. Schluß
Ich fasse zusammen: damit das Wort von der unendlichen Liebe in den Herzen der Römer fest wird, geht Paulus den Weg über das Bild vom sehnsüchtigen Warten der Schöpfung. Die Herrlichkeit der Gotteskinder, auf welche die Schöpfung wartet, lohnt das Leiden der Gegenwart. Die Sehnsucht ist ein Beleg dafür, daß diese Herrlichkeit keine Vertröstung ist. Und die Liebe Gottes ist die letzte Garantie dafür.
Paulus will die bedrängten römischen Christen in dem Glauben bestärken, daß es die Liebe Gottes ist, die uns am Ende erwartet, und von der wir zu keiner Sekunde unseres Lebens auch nur einen Millimeter getrennt sind. Die Möglichkeit einer solchen Trennung steht den Römern sehr viel deutlicher vor Augen als uns. Wir wissen wenig davon, wie eine funda-mentale äußere Bedrohung aussehen könnte.
Aber auch wir fürchten uns vor einer Bedrohung unserer Existenz. Jeder hat einen Begriff von dieser Angst, hat ein Wort dafür, vielleicht ein einziges, böses Wort. Und wir dürfen dieses Wort einsetzen in die Verse 38 und 39 und sagen: auch dies kann uns nicht trennen von der Liebe Gottes.
Hier schließt unser Weg durch den Römerbrief ab, und er schließt sich mit dem Weg der Römer zusammen. Sie haben es bereits erfahren, daß nichts von der Liebe Gottes trennt, uns steht die Erfahrung noch bevor. Es wird eine gute Erfahrung werden.
Wenn wir gleich eine Zeit der Gebetsstille haben, dann soll Gelegenheit dazu sein, dieses eine Wort für die bedrohliche Sache zu denken, die uns ganz persönlich von Gott trennen könnte. Und dann wollen wir mit dem Vaterunser abschließen, und wenn wir sagen, dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, dann wollen wir an seine Macht denken und glauben, daß er uns bei sich behalten will, für alle Zeiten.
Amen.
Lieber Vater im Himmel,
keine Macht der Welt kann uns von Deiner Liebe trennen. Viele von den ersten Christen im Rom, denen dieses Wort als ersten galt, haben das in ihren Hoffnungen und Zweifeln gehört und haben sich fest machen lassen, in dem Sturm, der über sie hereinbrach. Sie haben dem Sturm widerstanden und sind mit ihrem Mut und ihrer Standhaftigkeit ein Zeugnis geworden, das die Kirche groß gemacht hat.
Auch wir stehen vor Stürmen in unserem Leben, viele von uns können sie benennen, sehen sie auf sich zu kommen oder stehen bereits mittendrin. Du hörst die Worte, die jetzt in unseren Herzen ausgesprochen werden, unhörbar für die anderen, aber hörbar für Dich.
Wir wollen Dir jetzt sagen, daß wir Dir vertrauen, uns durch die Stürme des Lebens zu tragen und uns fest an der Hand zu halten. Wir sind gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn und deshalb sagen wir gemeinsam Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, in Ewigkeit.
Amen.
Montag, 1. November 2010
Der Weg nach Friedenberg
Heute habe ich einen Vorsatz vom vergangenen Sommer wahrgemacht. Ich wollte kreuz und quer durch das Landschaftsbild wandern, das mein Vetter Christopher Lehmpfuhl in der Nähe von Wermelskirchen gemalt hat und das mittlerweile in meinem Wohnzimmer hängt. Es zeigt das bewaldete Tal der Dhünn und die runden Hügel in der Nähe des Dorfes Bockhacken südlich des Baches. Das Bild ist an vielen Stellen trotz seines dicken Farbauftrages wundersam detailgenau, so daß man Wege, Wiesenstücke und einzelne Häuser ohne Probleme in der Natur wiederfinden kann (hier ein Foto von Böschung, Hecke und Wiese am linken Rand des Gemäldes).
Auf dem höchsten Punkt des Bildes angekommen, dem runden Hügel im rechten Hintergrund fand ich zu meiner Überraschung ein Hinweisschild zur Hofschaft Friedenberg, einer kleinen Ansiedlung, die in der Geschichte meiner väterlichen Familie in der Zeit des zweiten Weltkrieges eine wichtige Rolle gespielt hat. Mein Großvater Adolf Runkel hatte sich dort in den 30er Jahren eine kleine Blockhütte als Wochenendhaus errichtet und konnte sie 1943 nach der Bombardierung von Remscheid, in der des Großvaters Haus zerstört wurde, lange Zeit als Notunterkunft nutzen. Viele Geschichten meiner Familie spielen im Umkreis dieser Hütte, und ich freue mich, daß Christophers Bild mich jetzt indirekt auch an diesen Ort erinnert, der besonders für meine Großmutter ein wirklicher Friedensort gewesen sein muß.
Überraschend treffen wir auf dem runden Hügel, einer Anhöhe mit Funkmasten, meinen Vetter Paul Gerhard Runkel, der mit seiner Familie auf dem Weg nach Friedenberg ist. Auch sein Großvater Paul Runkel hatte hier ein kleines Häuschen, ebenso wie der dritte Bruder Gustav, und alle drei Häuser stehen, teilweise an- oder umgebaut und lange schon in fremden Besitz, noch heute. Wir müssen uns mit etwas Gewalt voneinander verabschieden, weil der Strom der gemeinsamen Familiengeschichten an diesem Ort kaum zu unterbrechen ist.
Meine Großmutter hat den Enkeln immer wieder von wundersamen Erfahrungen in der Notzeit erzählt. Für mich als Kind war der Gipfel aller Wunder die Geschichte von den Schuhsohlen meines Großvaters. Er sei häufig zwischen Friedenberg und dem etwa 15 km entfernten Remscheid zu Fuß hin und her gegangen (für uns Kinder schon Wunder genug), ohne daß jemals in der Folge auch nur ein Millimeter seiner Schuhsohle verschlissen gewesen sei. Leder für neue Schuhsohlen war damals kaum aufzutreiben, so daß die Großmutter dieses Wunder sehr viel höher veranschlagte als etwa die wundersame Vermehrung der Lebensmittelvorräte, zu welcher der überaus hilfsbereite Bauer Felder, dessen Enkel Matthias heute den Hof in Friedenberg bewirtschaftet, immer wieder seinen Beitrag leistete.