Gerne möchte ich meinen vorigen Blogeintrag hier noch etwas ergänzen und weitere Tonbandabschnitte ins Netz stellen. Mir ging es beim ersten Hören des Tonbandes so, dass ich eigentlich nur die pathetische Rhetorik bemerkt und dabei das gestalterische Geschick des Großvaters übersehen habe. Während des Schneidens habe ich dann aber Einzelheiten entdeckt, die nach meinem Eindruck bemerkenswert sind, weil sie eine mich überraschende Gestaltungsfreiheit des Großvaters belegen.
Er liest einen für die Ohren der anwesenden Baptisten fremd klingenden Text, nämlich Worte aus seiner vertrauten Elberfelder Bibel von 1871. In dieser wird, für jeden Zuhörer erkennbar, der Gottesname JHWH mit „Jehova“ wiedergegeben, das ist anders als bei den meisten anderen Übersetzungen, die „Herr“ haben. Übrigens hat später die revidierte Elberfelder Bibel von 1985 ebenfalls die Übersetzung „Herr“. Der Opa führt geschickt in die Szene der salomonischen Tempelweihe ein, indem er nicht (wie in vielen Freikirchen üblich) respektvoll den unveränderten Originaltext liest, sondern etwa bei der Erwähnung des „Vorhofs“, in dem die Szene spielt, ergänzt „in den Vorhof des Hauses Gottes“. Er liest „Salomo“ statt „er“ und lässt die technische Beschreibung eines „Gestells“ (fünf Ellen seine Länge, und fünf Ellen seine Breite, und drei Ellen seine Höhe) ganz weg.
Bei der zweimaligen Erwähnung der „Versammlung“, der kehal im Hebräischen, übernimmt er zunächst das „Versammlung“ der Elberfelder Bibel, ändert beim zweiten Mal aber das Wort in freier Entscheidung in „Gemeinde“, so wie es auch bei Luther steht und wie es den Zuhörern, darunter auch Vertretern der Kirche, sicherlich geläufig war.
Das ist für einen Mann der Brüderbewegung, in der die Gemeinden durchgängig „Versammlung“ hießen, eine bemerkenswerte Öffnung. Und die vollzieht er im Gebet noch weiter, indem er sich sehr deutlich mit der großen, weltumspannenden Gemeinde der Christen verbindet. In meiner Erinnerung redete man damals in den Freikirchen weitgehend noch nicht so. Der Großvater hatte aber in der Nazi-Zeit einen Blick über den Tellerrand tun können, als seine kleine „Versammlung“ unter Hitler verboten wurde und er sich den Baptisten anschloss. Nach dem Krieg wollte ihn die nun wieder legale Versammlung nicht mehr aufnehmen, und er schloss sich einer freien Brüdergemeinde an, die zunächst im Wohnzimmer eines Bauern zusammenkam und dann eine kleine Kapelle baute. Dort ging es offener zu, die Allianz mit anderen evangelischen Gemeinden und Kirchen wurde gepflegt.
Eindrucksvoll finde ich, wie er das Gebet vor der Schlüsselübergabe in die eigentliche Übergabehandlung hinüberzieht und einfach weiterbetet, wo alle die säkulare Aushändigung des Schlüssels erwarten. „Herr ich übergebe den Schlüssel vor Deinem Angesicht!“ sagt er, noch betend. Es wäre naheliegender, die Übergabe anders zu gestalten und einfach in der Rede zu sagen: „Und nun übergebe ich den Schlüssel vor Gottes Angesicht“. Aber die Du-Anrede im Gebet ist natürlich ungleich stärker und beschwört die Gegenwart Gottes in mächtiger Weise herauf.
Am Schluss werden dann seine allerletzten Worte auf dieser Erde zu einem Lied – aber zu was für einem! Er ändert das Programm, welches das etwas blumige „Tut mir auf die schöne Pforte“ vorsieht, und lässt den Segensspruch vom Ende des Zweiten Korintherbriefes singen: Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! (in der Liedstrophe am Schluss geändert auf mit uns allen).
Er stimmt es selbst an und dominiert, vor dem Mikrofon stehend, die ganze Aufnahme. Sein letztes Lebenszeichen, der Ton auf dem abschließenden „Amen“, misslingt ihm gräulich, er rutscht ab und verlässt diese Welt fast einen ganzen Ton unterhalb der restlichen Gemeinde, gerade so, als ob jetzt seine Lebenskraft am Ende sei.
Schief, aber wunderbar – wem ist es schon vergönnt, sein Leben mit einem "Amen" abzuschließen, das außerdem auch noch so menschlich klingt?
Schief, aber wunderbar – wem ist es schon vergönnt, sein Leben mit einem "Amen" abzuschließen, das außerdem auch noch so menschlich klingt?
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