Auf dem Weg zur Arbeit sehe ich seit einigen Wochen regelmäßig zwei Plakate, die beide, jedes auf seine Weise, ein neues, unheilbringendes Frauenbild
heraufbeschwören. Auf dem einen blickt mich eine junge Frau sehr angriffslustig
an, gerade so, als hätte ich ihr Fahrrad gestohlen, sagt dabei aber überraschenderweise, dass
sie mich nicht der Polizei übergeben wolle, sondern auf der Suche nach
romantischer Liebe sei. Ich beziehe das nicht auf mich - ich bin schließlich 63 - aber ich fürchte um die jungen Männer, denen dieser Blick und dieser Antrag gilt.
Donnerstag, 27. September 2012
Donnerstag, 20. September 2012
Kirchengeschichte
Folgt man
der amerikanischen Anthropologin Tanya Luhrmann, so hat die Zeit der Aufklärung
zu einer Aufspaltung der protestantischen Kirchen in zwei Lager geführt. Das
eine Lager, das liberale, hat in vielen Punkten
Kompromisse mit den Gedanken der Aufklärung gemacht, dabei aber auf breiter
Front an Attraktivität und in der Folge an Mitgliedern verloren. Dem liberalen
Lager war zwar zunächst ein Sieg auf der ganzen Linie vorhergesagt worden,
nachdem die Überlegenheit der Wissenschaft angesichts von Eisenbahnen und
Telefonen als erwiesen galt und die grausamen und unmenschlichen Seiten des
Darwinismus vergessen machte. Die Gegenbewegung, die
fundamentalistische, hat sich auf konservative Punkte
versteift, den Darwinismus abgestritten, und hat dabei in der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sichtbar den Kontakt zum gesellschaftlichen
Mainstream verloren.
Sonntag, 16. September 2012
Eine Predigt
Remscheid, 16.
September 2012
(in der Friedenskirche der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Schützenstr. 32)
(in der Friedenskirche der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Schützenstr. 32)
Heute habe ich
ein Bibelwort vom Erzählen mitgebracht und möchte es in den Mittelpunkt des
Gottesdienstes stellen. Es ist von einer Handlung Gottes in diesem kurzen Bibelwort
die Rede, aber es beginnt mit dem Erzählen.
Es ist ja
unsere Lieblingsbeschäftigung, dass wir uns etwas erzählen lassen. Das reicht
vom kleinen Schwätzchen über den Gartenzaun über kleine Bücher und die Fernsehfilme
vor 19 Uhr bis hin zu den großen Romanen und Dramen der Weltliteratur. Ganz
oben stehen für viele die Kriminalgeschichten. In denen kommt alles zusammen,
was eine gute Erzählung ausmacht. Es entwickelt sich etwas, man kann es nicht
sogleich verstehen, aber am Ende kommt immer die Auflösung, und man erfährt, warum
alles so gekommen ist, wie es kam.
Montag, 10. September 2012
Nachsommer
Jabel und
Remscheid, 10. September 2012
Der letzte
Urlaubstag ist ungewöhnlich warm. Wir fahren die rund 600 km von Mecklenburg
zurück nach Remscheid bei durchgängig 25 bis 28 Grad Celsius auf dem
Außenthermometer unseres Autos. Auch die vorige Nacht war warm, man konnte bis spät
vor dem Wohnwagen sitzen und in die Sterne sehen. Am Morgen dann ein ungewöhnliches
Schauspiel: während sich über den Wäldern und dem Schilf am anderen Seeufer die
ersten roten Streifen am Horizont zeigen, stehen darüber am Himmel die Venus, der
Mond als schmale Sichel und Jupiter im gleichen Abstand nebeneinander, wie
Perlen auf eine Kette gereiht. Und unter der Kette erhebt sich das schöne, aber
immer an den Winter erinnernde Sternbild des Orion langsam über den Horizont. Bald wird
es die ganze Nacht über zu sehen sein und den südlichen, dann kalten Himmel
beherrschen.
Sonntag, 9. September 2012
Bei Erich
Drewitz, 9. September 2012
Im Eingang
zum riesigen Jagdhaus Honeckers am Drewitzer See, das zu einem Hotel und zum Zentrum
einer Bungalow- und Ferienanlage umgebaut wurde, steht eine bäuerliche
Pferdekutsche mit einem Messingschild, das auf den früheren Eigentümer, den „Staatsrats
Vorsitzenden“ hinweist. Schulkinder, die heute mit ihren Eltern hier Ferien
machen, und im Restaurant nobel aber zu erschwinglichen Preisen zu Abend essen
oder Kaffee und Kuchen auf der Terrasse über dem blauen See einnehmen, werden
sich unter diesem Besitzer einen Mann vorstellen, der vor 200 Jahren hier durch
die Wälder gefahren ist und auf Hirsche geschossen hat, möglicherweise mit
Pfeil und Bogen. Für mich als im Gründungsjahr der DDR geborenen Westler, der die alten Kommunisten der DDR für Leute
gehalten hat, die in der Küche an der bescheidenen Wachstuchtischdecke ihr schlichtes Butterbrot
gegessen haben, ist Honeckers gut 35 m langer reedgedeckter
Bau überraschend prächtig, auch wenn das Innere, in dem große Teile der
Honecker-Einrichtung offenbar unverändert gelassen wurden, eher bieder und so langweilig
wirkt, wie es in meiner Erinnerung die alte DDR überall war.
Samstag, 8. September 2012
Wendepunkt im Wald bei Jabel
Jabel, 8.
September 2012
Denkmal im Wald zwischen Jabel und Nossentin |
Ein
Wuppertaler Pastor hat um 1840 – ich berichtete davon – die Reformation, den
Pietismus und die deutschen Befreiungskriege nach 1812 als die drei großen
Errungenschaften der Deutschen bezeichnet. Das hat natürlich mein Interesse an
diesen Kriegen geweckt, die ihren Höhepunkt in der für Napoleon
vernichtenden Völkerschlacht bei
Leipzig im Oktober 1813 hatten. Eigenartigerweise fand ich im Wald zwischen
Jabel und dem Nachbardorf Nossentin eine Spur, was die Ursprünge
dieser nationalen Erhebung gegen Napoleon betrifft.
Donnerstag, 6. September 2012
Nach Lodz
Lodz / Polen,
6. September 2012
Wer sich mit
dem alten Lied im Kopf, das vom Theo handelt, der nach Lodz fährt, auf den Weg
in diese Stadt macht, und holprige Straßen und klapprige Fuhrwerke erwartet,
wird enttäuscht. Die etwa 350 km lange Autobahn von Frankfurt / Oder hierhin
ist ein mustergültig gleichmäßiges Band, auf dem man wie im Traum daherrauscht,
Tempomat auf 145 kmh eingestellt (140 ist erlaubt), vorbei an zunächst
menschenleeren Waldgebieten im Osten Polens und dann später durch vereinzelt
besiedeltes Land, wenn man sich Lodz nähert. So wirkt es jedenfalls, die Städte
liegen nicht unmittelbar an der Autobahn.
Auf den Straßenschildern wird immer Warschau angegeben, aber auch Ternopol, noch weiter entfernt, und wie ich später nachlese bereits in der Ukraine, im alten Galizien. Diese Autobahn hat, so denkt man sich, eine schier unendliche Fortsetzung in den Straßen Zentralasiens, bis Sibirien und China kann man hier fahren, ohne eine einziges Mal das Meer zu sehen. Eine Fahrt quer durch die USA würde sehr viel schneller am Pazifik enden als eine Fahrt durch diese größte Landmasse der Welt, die hier vor einem liegt.
Auf den Straßenschildern wird immer Warschau angegeben, aber auch Ternopol, noch weiter entfernt, und wie ich später nachlese bereits in der Ukraine, im alten Galizien. Diese Autobahn hat, so denkt man sich, eine schier unendliche Fortsetzung in den Straßen Zentralasiens, bis Sibirien und China kann man hier fahren, ohne eine einziges Mal das Meer zu sehen. Eine Fahrt quer durch die USA würde sehr viel schneller am Pazifik enden als eine Fahrt durch diese größte Landmasse der Welt, die hier vor einem liegt.
Dienstag, 4. September 2012
Die Insel Innisfree
William Butler Yeats (1865 - 1939) |
Yeats hat sein berühmtes Gedicht The Lake Isle Of Innisfree in jungen Jahren geschrieben, da war er 23 Jahre alt. Später hat er sich manchmal über den Vorzug geärgert, den die Menschen diesem Gedicht vor allen anderen seiner späteren Werke gegeben haben. Er hatte den See, in dem Innisfree liegt (der Lough Gill in der County Sligo im Nordwesten Irlands) zusammen mit einem Freund besucht und wurde wenig später in London durch das Geräusch eines Brunnens in einem Schaufenster an das Schlagen der Wellen auf das Ufer des Lough Gill erinnert.
Das Gedicht ist voll starker Bilder. Ein englischer Freund hatte sie mir einmal übersetzt, aber ich hatte sie teilweise wieder vergessen. Google Translator hat die Erinnerung aufgefrischt. Einiges ist fast unübersetzbar, wie das bee-loud glade, zu anderem müsste man die Tierwelt besser kennen: linnet’s wings sind die Flügel einer Finkenart, die im Deutschen "Bluthänflinge" heißt. Schwer übersetzbar ist auch peace comes dropping slow. Trotzdem vergisst man es nie wieder, wenn man es einmal gehört hat. Man träumt den Traum von einem inneren Frieden, der sich langsam, nach und nach einstellt, vielleicht in der Ruhe und Abgeschiedenheit von Tagen an einem See, vielleicht ja hier in Mecklenburg...
Hier erst das Original und dann meine Übersetzung.
The Lake Isle Of Innisfree
I WILL arise and go now, and go to Innisfree,
And a small cabin build there, of clay and wattles made:
Nine bean-rows will I have there, a hive for the honey-bee,
And live alone in the bee-loud glade.
And I shall have some peace there, for peace comes dropping slow,
Dropping from the veils of the morning to where the cricket sings;
There midnight's all a glimmer, and noon a purple glow,
And evening full of the linnet's wings.
I will arise and go now, for always night and day
I hear lake water lapping with low sounds by the shore;
While I stand on the roadway, or on the pavements grey,
I hear it in the deep heart's core.
Die Seeinsel von Innisfree
Ich werde aufstehen und jetzt gehen, und gehen nach Innisfree,
Und eine kleine Hütte dort bauen, aus Lehm und Weidengeflecht:
Neun Reihen Bohnen werde ich dort haben, einen Korb für die Honigbiene,
Und alleine leben in der Bienen-lauten Lichtung.
Und ich werde einigen Frieden dort haben, denn Frieden kommt langsam tropfend,
Tropfend von den Schleiern des Morgens bis wo die Grille singt;
Dort ist alle Mitternacht ein Schimmern, und Mittag eine Purpurglut,
Und Abend voll von den Flügeln der Finken.
Ich werde aufstehen und jetzt gehen, denn immer, Tag und Nacht
Höre ich Wellen mit leisem Geräusch an das Ufer schlagen
Während ich auf der Straße stehe, oder auf den grauen Bürgersteigen,
Ich höre es in des tiefen Herzens Innerem.
Ich werde aufstehen und jetzt gehen, und gehen nach Innisfree,
Und eine kleine Hütte dort bauen, aus Lehm und Weidengeflecht:
Neun Reihen Bohnen werde ich dort haben, einen Korb für die Honigbiene,
Und alleine leben in der Bienen-lauten Lichtung.
Und ich werde einigen Frieden dort haben, denn Frieden kommt langsam tropfend,
Tropfend von den Schleiern des Morgens bis wo die Grille singt;
Dort ist alle Mitternacht ein Schimmern, und Mittag eine Purpurglut,
Und Abend voll von den Flügeln der Finken.
Ich werde aufstehen und jetzt gehen, denn immer, Tag und Nacht
Höre ich Wellen mit leisem Geräusch an das Ufer schlagen
Während ich auf der Straße stehe, oder auf den grauen Bürgersteigen,
Ich höre es in des tiefen Herzens Innerem.
Montag, 3. September 2012
Apotheker unter Beschuss
Waren / Müritz, 3. September
2012
Einschussloch auf der Rückseite des Warener Rathauses |
Am Rathaus
von Waren wird ein badenwannengroßes Loch auf der Rückwand liebevoll offen gehalten und gepflegt.
Es entstand während bürgerkriegsähnlicher Unruhen kurze Zeit nach dem
Ersten Weltkrieg und war Folge eines Beschusses durch antidemokratische
Aufständische. Sie belagerten unter der Führung des Barons Le Fort im März 1920 die Stadt.
Das Ziel der schweren Granaten, die damals eingesetzt wurden und unter der
Zivilbevölkerung Tote und Verletzte forderten, war nicht das Rathaus, sondern
die auf der gegenüberliegenden Seite des Rathausplatzes gelegene Löwenapotheke
oder genauer deren Besitzer Hans Hennecke (1886 – 1940). Der damals 34jährige
Apotheker, der gerade die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, war den
Aufständischen verhaßt. Er war nämlich im Stadtrat und war auch im Landtag
vertreten – als Mitglied der SPD. Auf ihn
zielten, so sagt es die Tafel am Rathaus, die Granaten.
Sonntag, 2. September 2012
Ein Tag auf dem Wasser
Jabel, 2. September 2012
In dem englischen Kinderbuch Der Wind in den Weiden beschreibt die
Wasserratte, die ein Boot besitzt, dem Maulwurf, der noch nie in seinem Leben in einem Boot gefahren ist, die Schönheit einer Bootspartie. Das Leben auf dem
Boot, sagt die Wasserratte, ist mit nichts zu vergleichen. Nichts scheint wirklich etwas
auszumachen, das ist das Schöne am Bootsfahren. Ob du wegkommst oder nicht, ob
du an deinem Bestimmungsort ankommst oder woanders, oder ob du überhaupt
nirgendwo hinkommst – du hast immer etwas zu tun, und du tust nie etwas
Spezielles, und wenn du es getan hast, dann ist immer noch etwas Anderes zu tun,
und du kannst es tun, wie du willst, aber am besten tust du’s gar nicht*.
Samstag, 1. September 2012
Im Paradies liegend
Jabel, bei Waren / Müritz, 1. September 2012
Unser Dorf Jabel hat im Leben des Mecklenburger Mundartdichters Fritz Reuter (Ut mine Festungstid) eine wichtige Rolle gespielt. Er verbrachte hier den Sommer und Herbst des Jahres 1841 im großen Pfarrhaus seines Onkels Ernst Reuter. Seine Festungszeit hatte er da gerade hinter sich. Sieben Jahre hatte der zunächst wegen Hochverrat zum Tode und dann zu 30 Jahren Festungshaft verurteilte jugendbewegte Turner und Burschenschaftler verbüßt und war dann vorzeitig entlassen worden. Un wat hadden wi denn dahn? hat er später gefragt, und geantwortet: Nicks, gor nicks. Jabel war als Kur gedacht für sein zu allerlei Ausschweifungen neigendes Wesen, es wurde in jedem Fall der Anfang eines Lebens auf dem Lande, das ihm gefiel. Jabel sei im Paradies liegend, schrieb er. Wenig später wurde er dann Volontär auf einem Gutshof unweit von hier und begann nach und nach seine Schriftstellerei.
Unser Dorf Jabel hat im Leben des Mecklenburger Mundartdichters Fritz Reuter (Ut mine Festungstid) eine wichtige Rolle gespielt. Er verbrachte hier den Sommer und Herbst des Jahres 1841 im großen Pfarrhaus seines Onkels Ernst Reuter. Seine Festungszeit hatte er da gerade hinter sich. Sieben Jahre hatte der zunächst wegen Hochverrat zum Tode und dann zu 30 Jahren Festungshaft verurteilte jugendbewegte Turner und Burschenschaftler verbüßt und war dann vorzeitig entlassen worden. Un wat hadden wi denn dahn? hat er später gefragt, und geantwortet: Nicks, gor nicks. Jabel war als Kur gedacht für sein zu allerlei Ausschweifungen neigendes Wesen, es wurde in jedem Fall der Anfang eines Lebens auf dem Lande, das ihm gefiel. Jabel sei im Paradies liegend, schrieb er. Wenig später wurde er dann Volontär auf einem Gutshof unweit von hier und begann nach und nach seine Schriftstellerei.
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