Sonntag, 21. Juli 2013

Das geheime Leben des Volkes (Teil 2)


Der folgende Artikel des US-amerikanischen Journalisten David Brooks (Foto) ist eine gute Ergänzung zur Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche. Er befasst sich ebenfalls mit den Lebensformen des modernen, des "säkularen" Menschen und sieht überraschende Möglichkeiten, ihn neu auf den Glauben anzusprechen. Ich habe ihn nach dem am 8. Juli 2013 in der New York Times erschienenen Original übersetzt.

Die säkulare Gesellschaft
Ich sollte gleich zu Anfang sagen, dass dieser Artikel der Bericht über ein Buch ist. Seit dem Jahr 2007, als dieses Buch veröffentlicht wurde, haben mir Wissenschaftler immer wieder von Charles Taylors A Secular Age* vorgeschwärmt. Kurse, Vorträge und Symposien sind um das Buch herum organisiert worden, aber es ist außerhalb der akademischen Welt fast unsichtbar, weil der Text aus etwa 800 Seiten dichter, mit Fachjargon gefüllter Prosa besteht.


Als jemand, der aus der Welt der Ideen berichten möchte, werde ich versuchen, Taylors Beschreibung zusammenzufassen. Sie handelt davon, was es bedeutet, in einer Zeit wie der unsrigen zu leben. Ich hoffe, dass mir dieses Vorhaben gelingt, ohne dass ich den Sinn des Buches total entstelle.

Charles Taylor, geboren 1931 in Montreal
Taylors Untersuchung beginnt mit der Frage: "Warum war es praktisch unmöglich, nicht an Gott zu glauben, sagen wir um das Jahr 1500 herum in unserer westlichen Gesellschaft, während es im Jahr 2000 viele von uns nicht nur einfach finden, sondern sogar unausweichlich?" Das heißt, wie haben wir uns von dem allumfassenden heiligen Kosmos weg und hin zu unserer aktuellen Welt bewegt, in welcher der Glaube eine Wahl ist, die einige Leute für sich treffen, während anderes es nicht tun und viele sich in der Mitte zwischendrin bewegen?

Diese Geschichte wird in der Regel als eine Subtraktions-Geschichte erzählt. Die Wissenschaft trat auf, ließ die Welt als das erscheinen, was sie wirklich ist, und die Menschen begannen, die Illusionen des Glaubens aufzugeben. Religiöser Geist machte den Weg frei für wissenschaftliche Fakten.

Taylor lehnt diese Geschichte ab. Statt dessen sieht er Säkularisierung im Großen und Ganzen als eine nicht eindeutig bewertbare Errungenschaft, sowohl für die Wissenschaft als auch für den Glauben.

Fortschritte im menschlichen Verstehen – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Kunst, Literatur, in den Sitten, der Philosophie und, ja, in Theologie und religiöser Praxis – geben uns ein reicheres Verständnis unserer eigenen Natur. Shakespeare hat uns geholfen, den menschlichen Charakter in komplizierterer Weise zu sehen. Eine Verbesserung der Sitten heißt, dass wir heute weniger Freude an der Bärenhatz haben, am Aufhängen von Menschen und anderen Formen der öffentlichen Grausamkeit. Wir haben außerdem ein weiteres Verständnis dafür, wie die Natur funktioniert.

Diese Erfolge haben es möglich gemacht, eine rein humanistische Anschauung eines sinnvollen Lebens zu konstruieren. Es wurde den Menschen möglich, sich ein sinnvolles Leben auf eine Gott-freie Weise vorzustellen - als Maler im Dienst der Kunst, als Forscher im Dienst des Wissens.

Aber, so fährt  Taylor fort, diese Errungenschaften führten auch zu moralisch anspruchsvolleren Leben für alle, Gläubige und Ungläubige. Anstatt fügsam seinen Ort im Kosmos einzunehmen, ist der gute Mensch in der säkularen Gesellschaft aufgerufen, sich sein Leben im Universum selbst zu konstruieren. Er ist herausgefordert, dazu seine ganze Kraft einzusetzen.

Die Menschen werden zu mehr Aktivismus gerufen, zu eigenem Engagement, zu Reformen. Religiöser Glaube oder Unglaube wird immer mehr zu einer Frage der persönlichen Wahl, zu einer Arbeit an der persönliche Entwicklung.

Diese Verschiebung im Bewusstsein führt zu einigen ernsthaften Nachteilen. Wenn der Glaube eine Sache der persönlichen Wahl ist, dann erleben auch die Gläubigen sehr viel mehr Zweifel. James K. A. Smith von Comment Magazine, der mir großzügig sein hervorragendes Manuskript eines Buches über Taylor überlassen hat, formuliert es so: "Wir glauben nicht statt zu zweifeln, wir glauben, während wir zweifeln. Wir sind heute alle der ungläubige Thomas."

Als Individuen leben wir nicht mehr eingebettet in enge soziale Ordnungen, wir leben in gegeneinander abgepufferten isolierten Welten von privaten Entscheidungen. Gemeinsames Handeln, schreibt Taylor, macht Platz für gegenseitiges Zur-Schau-Stellen.

Viele Menschen leiden unter einer Malaise. Sie erinnern sich, dass man früher in dem Gefühl lebte, mit einer verzauberten, transzendente Ordnung verbunden zu sein, aber sie fühlen sich heute gefangen in einer flachen Landschaft mit verminderter Würde. Ist das alles, was es gibt?

Nun werden diese Nachteile aber mehr als wettgemacht durch eine Reihe von Vorteilen. Taylor kann äußerst kritisch gegenüber unserer Gesellschaft sein, aber er ist insgesamt dankbar und optimistisch. Wir bewegen uns nicht in Richtung auf ein spirituell totes Ödland wie es sich etwa die Fundamentalisten vorstellen. Die meisten Menschen, beobachtet Taylor, sind gar nicht in der Lage, sich gleichgültig gegenüber der transzendenten Wirklichkeit zu verhalten. "Die Sehnsucht nach Ewigkeit ist nicht die triviale und kindische Sache, als die sie oft beschrieben wird", sagt Taylor.

Die Menschen sind heute in der Lage, Ganzheit und Fülle in einer erstaunlichen Vielfalt von verschiedenen Möglichkeiten anzustreben. Taylor beobachtet ein allgemeines Muster. Die Menschen tendieren dazu, nicht in einer Welt leben zu wollen, die abgeschottet ist von der transzendenten Welt und ausschließlich angewiesen ist auf die materielle. Wir bewegen uns nicht auf einen reinen Materialismus zu, so legt Taylor es nahe.

Wir gehen stattdessen in eine Richtung, die er einen "galoppierenden spirituellen Pluralismus" nennt. Menschen auf der Suche nach Ganzheit und Fülle sind heute in der Lage, alle intellektuellen, kulturellen und spirituellen Errungenschaften der letzten 500 Jahre zu ernten. Poesie und Musik machen Menschen für die Reiche jenseits des Gewöhnlichen wach.

Orthodoxe Gläubige leben heute mit einer anderen Spannung: wie kann man die Meisterwerke des Humanismus mit den zentralen Geheimnisse des eigenen Glaubens verbinden? Dieser Pluralismus kann Zersplitterungen und flache Optionen hervorbringen, und Taylor kann sie genau analysieren, aber insgesamt schlägt dieses säkulare Zeitalter bei weitem die Konformität und Verdummung des fundamentalistischen Zeitalters, und es gibt Raum für große spirituelle Leistungen.

Ich habe ein reiches, komplexes Buch stark vereinfacht, aber was ich am meisten darin schätze, ist die Vision einer "säkularen" Zukunft, die sowohl offen ist als auch zumindest die Möglichkeit einer neuen geistlichen Entschiedenheit in sich trägt, und die durch religiöse Motivation vorangetrieben wird. Diese Motivation ist ein starker und dauerhafter Teil unserer Natur.

*in Deutsch ist es 2012 erschienen: Ein säkulares Zeitalter

3 Kommentare:

Ukko Elhob hat gesagt…

...Als Teenager fand ich in meinem Elternhaus ein kleines Buch, das ich noch heute in meinem Bücherregal habe; "Weisheit des lächelnden Lebens" geschrieben von Lin Yutang. 

...Ein Abschnitt des Buches, der sich kritisch zu religiösen Überzeugungen äussert, ist seitdem ich ihn vor Jahrzehnten gelesen habe in meinem Denken haften geblieben. 

...Der Abschnitt könnte wie folgt zusammengefasst werden: Wollen Sie ein guter Mensch sein, weil man Sie mit der Hölle bedroht oder mit dem Himmel belohnt? Oder sollte man ein guter Mensch sein des eigene Denkens wegen?

...Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist.




http://ukkoelhob.blogspot.be/2012/04/sapere-aude-grown-up-man.html

Ukko Elhob hat gesagt…

...Als Teenager fand ich in meinem Elternhaus ein kleines Buch, das ich noch heute in meinem Bücherregal habe; "Weisheit des lächelnden Lebens" geschrieben von Lin Yutang. 

...Ein Abschnitt des Buches, der sich kritisch zu religiösen Überzeugungen äussert, ist seitdem ich ihn vor Jahrzehnten gelesen habe in meinem Denken haften geblieben. 

...Der Abschnitt könnte wie folgt zusammengefasst werden: Wollen Sie ein guter Mensch sein, weil man Sie mit der Hölle bedroht oder mit dem Himmel belohnt? Oder sollte man ein guter Mensch sein des eigene Denkens wegen?

...Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist.

Christian Runkel hat gesagt…

Ein gutes Wort, Vetter Ukko! "Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist." Ja - und außerdem, wie unsere Sehnsucht nach Transzendenz geblieben ist...