Der folgende Artikel des US-amerikanischen Journalisten David Brooks (Foto) ist eine gute Ergänzung zur Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche. Er befasst sich ebenfalls mit den Lebensformen des modernen, des "säkularen" Menschen und sieht überraschende Möglichkeiten, ihn neu auf den Glauben anzusprechen. Ich habe ihn nach dem am 8. Juli 2013 in der New York Times erschienenen Original übersetzt.
Die säkulare Gesellschaft
Ich sollte
gleich zu Anfang sagen, dass dieser Artikel der Bericht über ein Buch ist. Seit
dem Jahr 2007, als dieses Buch veröffentlicht wurde, haben mir Wissenschaftler immer
wieder von Charles Taylors A Secular Age* vorgeschwärmt. Kurse, Vorträge und Symposien sind
um das Buch herum organisiert worden, aber es ist außerhalb der akademischen
Welt fast unsichtbar, weil der Text aus etwa 800 Seiten dichter, mit Fachjargon
gefüllter Prosa besteht.
Als
jemand, der aus der Welt der Ideen berichten möchte, werde ich versuchen,
Taylors Beschreibung zusammenzufassen. Sie handelt davon, was es bedeutet, in
einer Zeit wie der unsrigen zu leben. Ich hoffe, dass mir dieses Vorhaben gelingt, ohne dass ich den Sinn
des Buches total entstelle.
Taylors
Untersuchung beginnt mit der Frage: "Warum war es praktisch
unmöglich, nicht an Gott zu glauben, sagen wir um das Jahr 1500 herum in
unserer westlichen Gesellschaft, während es im Jahr 2000 viele von uns nicht
nur einfach finden, sondern sogar unausweichlich?" Das heißt, wie haben
wir uns von dem allumfassenden heiligen Kosmos weg und hin zu unserer aktuellen
Welt bewegt, in welcher der Glaube eine Wahl ist, die einige Leute für sich
treffen, während anderes es nicht tun und viele sich in der Mitte zwischendrin bewegen?
Charles Taylor, geboren 1931 in Montreal |
Diese
Geschichte wird in der Regel als eine Subtraktions-Geschichte erzählt. Die Wissenschaft
trat auf, ließ die Welt als das erscheinen, was sie wirklich ist, und die Menschen
begannen, die Illusionen des Glaubens aufzugeben. Religiöser Geist machte den
Weg frei für wissenschaftliche Fakten.
Taylor lehnt
diese Geschichte ab. Statt dessen sieht er Säkularisierung im Großen und Ganzen als eine nicht
eindeutig bewertbare Errungenschaft, sowohl für die Wissenschaft als auch für den Glauben.
Fortschritte
im menschlichen Verstehen – nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in
Kunst, Literatur, in den Sitten, der Philosophie und, ja, in Theologie und
religiöser Praxis – geben uns ein reicheres Verständnis unserer eigenen Natur.
Shakespeare hat uns geholfen, den menschlichen Charakter in komplizierterer
Weise zu sehen. Eine Verbesserung der Sitten heißt, dass wir heute weniger
Freude an der Bärenhatz haben, am Aufhängen von Menschen und anderen Formen der
öffentlichen Grausamkeit. Wir haben außerdem ein weiteres Verständnis dafür, wie die Natur
funktioniert.
Diese
Erfolge haben es möglich gemacht, eine rein humanistische Anschauung eines
sinnvollen Lebens zu konstruieren. Es wurde den Menschen möglich, sich ein
sinnvolles Leben auf eine Gott-freie Weise vorzustellen - als Maler im Dienst
der Kunst, als Forscher im Dienst des Wissens.
Aber, so
fährt Taylor fort, diese Errungenschaften
führten auch zu moralisch anspruchsvolleren Leben für alle, Gläubige und
Ungläubige. Anstatt fügsam seinen Ort im Kosmos einzunehmen, ist der gute Mensch
in der säkularen Gesellschaft aufgerufen, sich sein Leben im Universum selbst zu
konstruieren. Er ist herausgefordert, dazu seine ganze Kraft einzusetzen.
Die Menschen
werden zu mehr Aktivismus gerufen, zu eigenem Engagement, zu Reformen.
Religiöser Glaube oder Unglaube wird immer mehr zu einer Frage der persönlichen
Wahl, zu einer Arbeit an der persönliche Entwicklung.
Diese
Verschiebung im Bewusstsein führt zu einigen ernsthaften Nachteilen. Wenn der
Glaube eine Sache der persönlichen Wahl ist, dann erleben auch die Gläubigen sehr
viel mehr Zweifel. James K. A. Smith von Comment Magazine, der mir großzügig sein
hervorragendes Manuskript eines Buches über Taylor überlassen hat, formuliert es
so: "Wir glauben nicht statt zu zweifeln, wir glauben, während wir zweifeln.
Wir sind heute alle der ungläubige Thomas."
Als
Individuen leben wir nicht mehr eingebettet in enge soziale Ordnungen, wir leben
in gegeneinander abgepufferten isolierten Welten von privaten Entscheidungen. Gemeinsames Handeln, schreibt
Taylor, macht Platz für gegenseitiges Zur-Schau-Stellen.
Viele Menschen leiden unter einer Malaise. Sie erinnern sich, dass man früher in dem Gefühl lebte, mit einer verzauberten, transzendente Ordnung verbunden zu sein, aber sie fühlen sich heute gefangen in einer flachen Landschaft mit verminderter Würde. Ist das alles, was es gibt?
Viele Menschen leiden unter einer Malaise. Sie erinnern sich, dass man früher in dem Gefühl lebte, mit einer verzauberten, transzendente Ordnung verbunden zu sein, aber sie fühlen sich heute gefangen in einer flachen Landschaft mit verminderter Würde. Ist das alles, was es gibt?
Nun werden diese
Nachteile aber mehr als wettgemacht durch eine Reihe von Vorteilen. Taylor kann
äußerst kritisch gegenüber unserer Gesellschaft sein, aber er ist insgesamt dankbar
und optimistisch. Wir bewegen uns nicht in Richtung auf ein spirituell totes Ödland
wie es sich etwa die Fundamentalisten vorstellen. Die meisten Menschen, beobachtet
Taylor, sind gar nicht in der Lage, sich gleichgültig gegenüber der
transzendenten Wirklichkeit zu verhalten. "Die Sehnsucht nach Ewigkeit ist
nicht die triviale und kindische Sache, als die sie oft beschrieben wird", sagt
Taylor.
Die Menschen
sind heute in der Lage, Ganzheit und Fülle in einer erstaunlichen Vielfalt von
verschiedenen Möglichkeiten anzustreben. Taylor beobachtet ein allgemeines
Muster. Die Menschen tendieren dazu, nicht in einer Welt leben zu wollen, die abgeschottet
ist von der transzendenten Welt und ausschließlich angewiesen ist auf die materielle. Wir bewegen uns nicht auf einen reinen Materialismus zu, so legt Taylor es
nahe.
Wir gehen stattdessen
in eine Richtung, die er einen "galoppierenden spirituellen Pluralismus" nennt.
Menschen auf der Suche nach Ganzheit und Fülle sind heute in der Lage, alle
intellektuellen, kulturellen und spirituellen Errungenschaften der letzten 500
Jahre zu ernten. Poesie und Musik machen Menschen für die Reiche jenseits des
Gewöhnlichen wach.
Orthodoxe
Gläubige leben heute mit einer anderen Spannung: wie kann man die Meisterwerke
des Humanismus mit den zentralen Geheimnisse des eigenen Glaubens verbinden?
Dieser Pluralismus kann Zersplitterungen und flache Optionen hervorbringen, und
Taylor kann sie genau analysieren, aber insgesamt schlägt dieses säkulare
Zeitalter bei weitem die Konformität und Verdummung des fundamentalistischen
Zeitalters, und es gibt Raum für große spirituelle Leistungen.
Ich habe ein
reiches, komplexes Buch stark vereinfacht, aber was ich am meisten darin schätze,
ist die Vision einer "säkularen" Zukunft, die sowohl offen ist als auch
zumindest die Möglichkeit einer neuen geistlichen Entschiedenheit in sich trägt,
und die durch religiöse Motivation vorangetrieben wird. Diese Motivation ist ein starker und
dauerhafter Teil unserer Natur.
*in Deutsch ist es 2012 erschienen: Ein säkulares Zeitalter
*in Deutsch ist es 2012 erschienen: Ein säkulares Zeitalter
3 Kommentare:
...Als Teenager fand ich in meinem Elternhaus ein kleines Buch, das ich noch heute in meinem Bücherregal habe; "Weisheit des lächelnden Lebens" geschrieben von Lin Yutang.
...Ein Abschnitt des Buches, der sich kritisch zu religiösen Überzeugungen äussert, ist seitdem ich ihn vor Jahrzehnten gelesen habe in meinem Denken haften geblieben.
...Der Abschnitt könnte wie folgt zusammengefasst werden: Wollen Sie ein guter Mensch sein, weil man Sie mit der Hölle bedroht oder mit dem Himmel belohnt? Oder sollte man ein guter Mensch sein des eigene Denkens wegen?
...Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist.
http://ukkoelhob.blogspot.be/2012/04/sapere-aude-grown-up-man.html
...Als Teenager fand ich in meinem Elternhaus ein kleines Buch, das ich noch heute in meinem Bücherregal habe; "Weisheit des lächelnden Lebens" geschrieben von Lin Yutang.
...Ein Abschnitt des Buches, der sich kritisch zu religiösen Überzeugungen äussert, ist seitdem ich ihn vor Jahrzehnten gelesen habe in meinem Denken haften geblieben.
...Der Abschnitt könnte wie folgt zusammengefasst werden: Wollen Sie ein guter Mensch sein, weil man Sie mit der Hölle bedroht oder mit dem Himmel belohnt? Oder sollte man ein guter Mensch sein des eigene Denkens wegen?
...Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist.
Ein gutes Wort, Vetter Ukko! "Was Brooks beschreibt, ist wie unsere Fähigkeit zum eigenen Denken gewachsen ist." Ja - und außerdem, wie unsere Sehnsucht nach Transzendenz geblieben ist...
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