Dienstag, 23. Juli 2013

Das geheime Leben des Volkes (Teil 3)


Gerne möchte ich meinen Freunden aus dem evangelikalen Lager, zu dem ich gehöre, ein Gedankenexperiment anbieten. Angenommen einmal, wir hätten nach langem Forschen und vielen Bemühungen einen Zugang zu den über 90 % der Menschen in unserem Land bekommen, die nicht mehr in eine Kirche gehen. Und angenommen, wir hätten von ihnen die Zusage erhalten, dass sie grundsätzlich nicht abgeneigt sind, uns zu besuchen. Was würden wir ihnen sagen, wenn sie dann schließlich zu uns kämen?

Vielleicht würden wir ja - zweite Annahme - die Grundkenntnisse nutzen, die uns die „Orientierungshilfe“ liefert, und würden uns zunächst einmal für ihre unmittelbaren Probleme und Erwartungen interessieren, ihnen also Hilfe und menschliche Begleitung in den vielfältigen Höhen und Tiefen ihres Lebens anbieten. Wir würden ihnen also erst einmal mit Rat und Tat, auch mit Bibelworten und Gebeten zur Seite stehen.

Wenn es uns über dieses Vorgehen gelingen würde, eine Beziehung und eine Bindung aufzubauen, wann wäre dann der Punkt gekommen, an dem wir auch über unsere Werte sprechen? Wann also sollte die Botschaft kommen, die meine wertkonservativen Freunde in der „Orientierungshilfe“ vermissen? Wann z.B. sollten wir ihnen sagen, dass wir eine lebenslange, monogame, auf Kinder ausgerichtete Ehe für das halten, was sich Gott für die Menschen vorstellt? Wann sollten wir ihnen sagen, dass wir gegen eheliche Untreue sind, gegen sexuellen Missbrauch in jeder Form, natürlich auch gegen Abtreibung?

Wenn ich jetzt sage, wir sollen es gar nicht sagen, werde ich Prügel bekommen. Aber ich sage es trotzdem, und ich gebe dabei zu Bedenken dass wir mit einer solchen Strategie des Nichts-Sagen unsere alte Strategie gar nicht ändern. Ein Beispiel: ich denke, dass die meisten Menschen, die wie meine Frau und ich in einer lebenslangen Monogamie leben und mit Kindern gesegnet worden sind, es kaum einmal für nötig gehalten haben, propagandistisch für diese Lebensform einzutreten. Stattdessen leben wir diese Art der Ehe und werben mit offenen und gastlichen Häusern für ein Leben in einer solchen Ehe, das wir für selbstverständlich halten.

Gleiches gilt für sexuelle Gewalt, für Untreue, für Abtreibung. Wer von uns hat je ein Bekenntnis ablegen müssen, dass er sich gegen solche Dinge ausspricht? Man muss hier nichts erklären, die Leute wissen es ohnehin. Man muss aber vorleben.

Wenn ich nun zurückkomme auf die Situation, dass kirchenfremde Leute mit allerlei Erwartungen zu uns kommen und Rat und Hilfe und ein Gebet von uns erhalten wollen und vielleicht ein kleines Stückchen Begleitung auf dem Weg zu dem spirituellen Ziel, dass sie ja vielfach vor Augen haben, wenn man David Brooks Thesen glauben kann - wenn ich in einer solchen Situation also sage, dass wir die konservativen Erklärungen sozusagen aus dem Schaufenster nehmen und stattdessen als Willkommensgruß einen Tisch und eine Stuhl hinein stellen sollten, dann spreche ich für eine vernünftige Werbung für unseren Glauben, aber nicht gegen Wertkonservativismus.
Ich erinnere mich an viele Lebenssituationen, in denen ich Mitmenschen angetroffen habe, die mich um meine Hilfe gefragt haben. In keiner dieser Situation hat irgendein Mensch von mir erwartet, dass ich zunächst einmal meine Überzeugung vorgetragen habe, etwa dass meine Form der Ehe besser ist als die Patchwork-Gemeinschaft eines kunterbunten Haushaltes oder als eine eingetragene Lebensgemeinschaft gleichgeschlechtlicher Partner.
Meine Ehe ist besser, und zwar als Lebensprinzip, diese Gewissheit genügt mir. Und dann kann ich mich in die Gemeinschaft der vielen bunten anderen Partnerschaften einreihen und mit Ihnen zusammen sagen: lasst uns alle daran arbeiten, dass diese Gemeinschaften weiter gegenseitige Fürsorge leisten und nicht zerbrechen. Wir alle sind schließlich darauf angewiesen.
Wenn ich alles in drei Sätzen zusammenfassen sollte, dann so: die „Orientierungshilfe“ ist eine wertvolle Annäherung an das uns vielfach unbekannte und tatsächlich „geheime“ Leben unserer Nachbarn. Wir sollten diesem Leben mit Worten und Taten näher kommen und unsere konservativen Grundüberzeugungen einfach nur leben, still und demütig und immer in der Hoffnung, dass wir ein Leben lang die Kraft haben werden, ihnen treu zu bleiben. Die Leute brauchen unsere Nähe, nicht die Proklamation unserer Überzeugungen.

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