Vor vielen Jahren habe ich einmal lange vor dem großen
Christus gestanden, der über dem Hauptportal der Kathedrale von Vezelay thront, und habe mich
gefragt, warum die hochentwickelte Steinmetzkunst der damaligen Zeit nicht ausgereicht hat, den Faltenwurf seines Gewandes ein wenig realistischer abzubilden. Im
Louvre hatte ich zuvor die dünne Gaze bestaunt, die der Steinmetz scheinbar mühelos über
den Körper der Nike von Samothrake herausgebildet hatte, 1300 Jahre vor Vezelay
– eine einzige Steinoberfläche, aber darin ein zart vom Wind bewegtes Kleid und
die klaren Konturen des Körpers darunter.
Mir wurde klar, dass der Künstler von Vezelay etwas Anderes
im Sinn hatte als ein exaktes Abbild nach der Natur zu schaffen. Er wollte etwas Symbolhaftes schaffen. Erst seine Renaissance-Nachfolger
mit ihrer Wiederentdeckung der Klassik, haben sich erneut an die realistische Kunst der Nike angenähert.
Bei Charles Taylor las ich jetzt neue Gedanken darüber, wie der Umbruch
zu einer präzisen Malweise begann, und zwar nicht erst mit der Renaissance, sondern schon mit dem Italiener Giotto, etwa auf der Mitte der Zeit
zwischen Vezelay 1130 und dem Beginn der Renaissance 1420. Giotto lebte von 1266 bis 1337 und
wurde der Legende nach von dem Maler Cimabue in die Schule genommen, nachdem
dieser ihn als jungen Hirten beim naturgetreuen Zeichnen seiner Schafe
entdeckt hatte.
Taylor nimmt Giotto als Vertreter für das wiedererwachte
Interesse an der Natur. Er führt dieses Interesse darauf zurück, dass sich im Glauben der Menschen etwas verändert hatte. Während sie im hohen Mittelalter Gott noch
als den über allem thronenden Weltenrichter verstanden hatten, führte eine
Reihe von Veränderungen in ihrer Welt dazu, dass Gott in der Person
Jesu Christi für die Menschen wichtiger wurde. Man fing damit an, sich stärker dem Menschen Jesus zuzuwenden, besonders der leidende Christus rückte ins Zentrum des Interesses.
Dies geschah im großen Zusammenhang einer vielfältigen
Hinwendung zur Welt und zu den einzelnen Menschen. Vielleicht tritt diese Bewegung in der
Person des 1182 geborenen Franz von Assisi am deutlichsten hervor. Es ist von
daher kein Zufall, dass die Fresken auf den Wänden der Kathedrale von Assisi, über dem Grab des mildtätigen und armen Heiligen gebaut,
schon um das Jahr 1300 die realistischen Bilder zeigen, die dann 100 Jahre
später in der beginnenden Renaissance typisch wurden. Sie sind in aller
Wahrscheinlichkeit nach von Giotto gemalt worden.
Ich stelle hier ein Bild von Giotto, das den vom Kreuz
abgenommenen Christus zeigt, in einen bewussten Gegensatz zum Christus von Vezelay.
Der Körper des toten Christus ist anatomisch richtig wiedergegeben.
Beeindruckend genau gemalt sind auch die Gewänder der
Personen um ihn herum. Ihr Faltenwurf ist noch nicht so realistisch wie bei der Nike, aber
er zeigt eine präzise Beobachtung des gemalten Gegenstandes.
In der Zeit Franz von Assisis und Giottos gewinnt die
Gesellschaft des späten Mittelalters einen Sinn für die Realität der Dinge. Sie
waren ihr zuvor, der Lehre der Kirche entsprechend, eher in ihrer Symbolhaftigkeit erschienen.
Ein schöner Gedanke zum Schluss: Taylor schildert die starke
Wirkung einer neuen Kaste von Wanderpredigern, die damals durch Europa zogen.
Sie seien es gewesen, die in besonderer Weise das Interesse am einzelnen
Menschen geweckt hätten. Wer missionieren will, sagt Taylor, muss die Menschen
genau ansehen, damit er sie erreichen kann.
1 Kommentar:
Bei anderer Gelegenheit schrieb ich:
>Hier markiert, wie erwähnt, die Wende vom ersten zum zweiten (nach)christlichen Jahrtausend auch "innere Wendepunkte" und Brüche (Spaltung zwischen Ost- und West-Kirche, Kaiser und Papst), die im 11. und 12. Jahrhundert zu neuen Aufbrüchen führte (Kreuzzüge, "Aventurien", Gotik und "Ritterlichkeit"). Zusätzliche Hinweise auf einen kulturellen und seelischen Wandel, der mit der Jahrtausend- wende gegeben war, zeigen sich in der abendländischen Kunst: Bis dahin finden sich - in Buchmale- reien, Mosaiken und Fresken - immer wieder Abbildungen Christi, wie er von den vier "Wesen" (aus Apc 4!) umringt ist; diese Wesen wurden früh schon als Symbole der vier Evangelisten aufgefaßt und ihnen - in unterschiedlicher Anordnung - zugeordnet. "Die Evangelistenbilder sind ein Leitmotiv frühmittelalterlicher Kunst, häufiger vorkommend als alle anderen Themen und über längere Zeiträume oft der einzige Gegenstand figuraler Darstellung", heißt es bei Hans Holländer in der "Kunst des frühen Mittelalters" (Stuttgart; Zürich, 1991; S. 58). Doch: "Um die Jahrtausendwende hatten sich die Bedingungen der Kunst verändert" (S.157), was auch zur vermehrten Entstehung von Plastiken und Skulpturen führte. "Wenn jetzt die ganze Gestalt erstrebt wird,... dann zeigt sich jedoch,... daß... diejenigen Tendenzen einströmen, die sich seit karolingischer Zeit bemerkbar machten und keine Aufgabe fanden, denn die Verhinderung monumen- taler Plastik bedeutete zugleich eine Blockierung künstlerischer Antriebe, die nun, nach hinreichender Lockerung der Vorschriften und der ersten Realisierung von Kultbildern, sich befreien konnten. Die lange verhinderte Aufgabe, das Bild Christi und der Maria, war nun gestellt. Jetzt wurden auch die Künstler herangezogen. Zentrum künstlerischer Intensität war freilich zunächst weder das Heiligenbild noch die Madonnenstatue, obgleich sich von nun an beide Themenbereiche rasch entfalteten, sondern das Bild Christi, und zumal das Bild des Gekreuzigten" (S. 160).<
(https://www.facebook.com/notes/faithbook-on-facebook-f%C3%BCr-eine-historisch-informierte-glaubenspraxis/apocalypse-0911/198002750267425)
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