Sonntag, 7. September 2014

Die permanente Reformation

Charles Taylor sieht den Weg in unser säkulares Zeitalter nicht dadurch vorgezeichnet, dass die christliche Religion schrittweise an Einfluss verliert und durch moderne Erkenntnisse überflüssig gemacht wird. Er sieht vielmehr die aktive Rolle, welche die Religion aus eigenem Antrieb bei allen Veränderungen der letzten Jahrhunderte gespielt hat - am Ende möglicherweise zu ihrem eigenen Nachteil.

Reform ist das Programm der Kirchen, die in den letzten 1000 Jahren zur westlichen Christenheit gehört haben. "Wiedererweckung, Neuorganisation, erneuerte Hingabe und Disziplin sind Teil einer standing culture aller Kirchen geworden, die aus dem westlichen Christentum entstanden sind," sagt Taylor.  Eine der wesentlichen Antriebskräfte für die Erneuerungen war das Gefühl, auf viel zu unterschiedliche Weise fromm zu sein. Schon im Mittelalter hat man sich daran gestört, dass die Menschen gewissermaßen in zwei Klassen zerfielen: die von Beruf frommen Priester und Mönche auf der einen Seite und die Schar der in ihrem gottfernen Alltag gefangenen Menschen auf der anderen Seite.

Ein Blick in die Nachfolge Christi des Thomas von Kempen (1380 - 1471) genügt, um zu sehen, welche Wünsche schon damals reformbereite Menschen für ein in seiner ganzen Fülle gottergebenes Leben gehabt haben. Emotionale Ergriffenheit wird zum Ideal gemacht und eine vollkommene Angleichung des eigenen Lebens an das Vorbild von Jesus.
Thomas schreibt:

Es geschieht, dass manche das Evangelium zwar oft hören, aber kaum davon ergriffen werden, weil ihnen der Geist Christi fehlt.

Wer die Worte Christi voll verstehen und verkosten will, muss ihm sein ganzes Leben anzugleichen suchen.

Taylor hat viel Sympathie für diese Art von Frömmigkeit, die später in ganz ähnlicher Form als praxis pietatis das Programm der Pietisten wird. Er sieht ähnliche Entwicklungen in unterschiedlichen Phasen der Geschichte, bei den Calvinisten, den Puritanern, später bei den von John Wesley mit großer Emotionalität angesprochenen Methodisten, bei den Gläubigen in den verschiedenen Erweckungsbewegungen im 19. Jahrhundert und bei den Evangelikalen des 20. Jahrhunderts. Auch in der katholischen Kirche gibt es ähnliche Erscheinungen, am bekanntesten vielleicht die Herz-Jesu-Frömmigkeit.
Thomas von Kempen wendet sich gegen die Gelehrsamkeit, welche die frommen Erscheinungen zwar mit guten Worten beschreiben, aber nicht nachvollziehen kann.

Ich will lieber die Zerknirschung fühlen als sie definieren können.

Während ich dies schreibe, merke ich, dass ich mit meinen Betrachtungen nicht konsequent im Geist dieser Frömmigkeit stehe. Ich sehe, dass dies mein Leben lang ein Problem für mich gewesen ist: viel beschreiben, viel zu wenig davon leben.  Aber trotzdem möchte ich niemals von dieser Quelle getrennt sein.
Deshalb halte ich daran fest, ein Evangelikaler sein zu wollen.

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