Samstag, 13. September 2014

Wer sein Geld nicht mehr vertrinkt

Um das Jahr 1820 herum wurden in den Vereinigten Staaten pro Kopf noch viermal so viel hochprozentige Alkoholika getrunken wie heute. Das änderte sich nach einer Welle von Great Awakenings, Erweckungsbewegungen, in denen die Menschen nicht nur einen neuen Glauben annahmen, sondern in Verbindung damit auch zu einer neuen, ihre Lebens- und Familienumstände stärkenden Moral fanden.

Taylor stellt diese Veränderungen in den Zusammenhang einer Frage, die das ganze Buch durchzieht: welchen Einfluss hat man in unterschiedlichen Zeiten auf die moralischen Standards der Menschen genommen und damit das Ideal von eigenverantwortlicher Lebensführung und individueller Freiheit vorgeprägt ? Im Beispiel der amerikanischen Erweckung zu einer maßvollen Lebensführung ist der Einfluss der Kirchen (und teilweise auch des Staates) sehr deutlich. Im Mittelalter war es noch anders, da war es schon revolutionär, wenn ein Konzil die Pflicht zur jährlichen Beichte einzuführen versuchte. 
 
Taylor sieht heute etwa in Lateinamerika oder Afrika weiterhin solche ersten Generationen von Menschen, die eine radikale Veränderung erlebt haben. Hier ist die Hinwendung zu einem pfingstlerisch geprägten Glauben (in Afrika auch zum Islam) zusammen mit einer strengen Lebensführung oft der lebensnotwendige Einstieg in ein die Familie und den Arbeitsplatz sicherndes neues Leben. Auch in Fragen der Sexualmoral wird eine große Strenge praktiziert, mit deren Hilfe man ebenfalls das Überleben der Familie sichert. Gleichzeitig wird als vierter, beruflicher Faktor eine strenge Arbeitsethik gelebt.  

Nach den früheren Awakenings lässt sich das eigenartige Phänomen beobachten, dass eine erfolgreiche Bekämpfung von schlechten und verderblichen Sitten schon in der nächsten Generation zu einem Vergessen der Gründe führen kann, aus denen heraus der Kampf geführt wurde. Die Sitten bessern sich, ein beachtlicher Lebenserfolg stellt sich ein – und man weiß bald nicht mehr, warum man sich so übermäßig angestrengt hat.

Deshalb führte die Einschränkung des Alkoholismus in den USA vielfach dazu, dass die Kinder oder Enkel der Generation von bekehrten Trinkern sich sehr bald wieder einen laxen Standard dem Alkohol gegenüber angewöhnten. Die Eltern hatten sich unter dem Eindruck ihres eigenen Alkoholmissbrauchs sowohl zu Gott als auch zu einer radikalen Abstinenz bekehrt, die Kinder dagegen sahen die Notwendigkeit von so viel Strenge nicht mehr ein. Sie begannen einen maßvollen Alkoholkonsum und waren dabei oft glücklich, nicht in die Fehler vergangener Generationen zurückzufallen. Die komplette Abstinenz ihrer Eltern erschien ihnen überholt zu sein, und zugleich mit deren Prinzipienstrenge gaben die Kinder oft auch Teile ihres überkommenen Glaubens auf.

Verglichen mit diesem Verlust an Prinzipien findet Taylor es überraschend, dass in den heutigen westlichen Gesellschaften der Vierklang von Glauben, Alkohol-/Drogenabstinenz, strenger Sexualethik und strenger Arbeitsethik zwar aufgebrochen, aber dann doch nicht vollkommen aufgegeben wird. Die strenge Arbeitsethik bleibt. Zwar beginnen die Menschen nach dem Jahre 1960 damit, eine sehr viel liberalere Einstellung zu sexualethischen Fragen wie etwa des vorehelichen Zusammenlebens und der Homosexualität zu haben. Die strenge Ethik der früheren Generation wird nicht übernommen, allerdings gilt das eben nicht für weite Bereiche der Arbeitsethik. Hier gelten weiterhin die Regeln, die man von den Eltern übernommen hat.

In allen Fällen wird deutlich, dass hinter den Regelwerken vielfach die Antriebskräfte der großen Religionsgemeinschaften stehen. Sie liefern die Motivation, aus der heraus die Sitten einer Gesellschaft verbessert werden und aus der Menschen zu eigenverantwortlichen Individuen erzogen werden. Am Ende geraten die Religionsgemeinschaften aber in Gefahr, selbst als überflüssig angesehen zu werden und nicht nur als das, sondern auch als eine Kraft, welche die Lebensfreude und Kreativität ganzer Generationen unterdrücken kann.

Ich verstehe jetzt im Nachhinein die manchmal radikale und wütende Abkehr vom Glauben besser, die ich bei vielen meiner Jugendgefährten erlebt habe. Man kann ihre Negierung von Religion befürworten oder ablehnen - wichtig erscheint mir zu sein, dass man ihre Gründe erst einmal zur Kenntnis nimmt.

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