Dienstag, 11. November 2014

Briefwechsel mit einem atheistischen Freund (IX)

Lieber Vetter Martin,

habe ich versucht zu missionieren? Meine Absicht war eigentlich eine andere: ich wollte, innerlich gefüllt mit den säkularen Betrachtungen Charles Taylors, einem friedlichen Gedanken nachgehen. Kann man als in einem immanent frame lebender Christ den ebenfalls dort lebenden Atheisten in der entspannten Freude begegnen, dass wir alle unterschiedslos in einer „entzauberten Welt“ leben und den größten Teil unsere Überlegungen tatsächlich immanent betreiben?

Diesem Einstieg bist Du nicht gefolgt, sondern hast gesagt, Atheismus sei eine Anstrengung, eine bewusste Dekonstruktion, und von daher kein komfortabler Ausgangspunkt für alle Menschen. Das habe ich verstanden.
Dann habe ich danach gefragt, was dem Atheisten in seinem nach oben streng begrenzten frame denn möglicherweise fehlen könnte. Taylor sieht eine Reihe von Defiziten, mit denen der Atheist sich auseinandersetzen muss. Eins davon ist das fehlende Urvertrauen, das die Religion gibt, vielleicht ein Gefühl, das noch vor jeder Religion liegt. Wir hatten hier über das „Etwas“ gesprochen, das uns den Mut gibt, in die Welt hinauszugehen.
Nun bin ich mit Deiner Antwort nicht ganz zufrieden, diese vor-religiösen Grundvorstellungen seien "wahrscheinlich im Tier-Mensch-Übergangsfeld gemeinsam mit unseren kognitiven mentalen Systemen entstanden.“ Ich schließe zwar nicht aus, dass wir Reste solcher Ur-Vorstellungen in uns haben, behaupte aber, dass wir sie mit dem Fortschreiten unserer Kultur in erheblichem Maßstab verfeinert und verändert haben.
Der moderne Regierungsbeamte, der wie Du morgens durch den Brüsseler Verkehr zu seiner Arbeit fährt, hat hochkomplexe Vorstellungen von dem, was ihn dort an Chancen und Gefahren erwartet, und nicht nur dort, sondern auch beim anstehenden Arztbesuch, bei der froh erwarteten Begegnung mit seinen Enkeln und der sorgenvollen Beschäftigung mit den Problemen der alt gewordenen Eltern. Was ist das Leben zwischen all diesen Höhen und Tiefen? Was gibt uns Mut, an einen wie auch immer gearteten guten Ausgang des nächsten Tages, der nächsten Woche zu denken?
Hier helfen uns die Ur-Reflexe aus der Schimpansenzeit nicht weiter. Hier an dieser Mut-Frage entsteht Religion immer wieder neu, und es zeigt sich, dass sie kein System aus grauen Vorzeiten ist, das wir, klüger werdend, nach und nach ablegen. Im Gegenteil, das Nachdenken über einen unser Leben tragenden und stärkenden Sinn wird mit dem kulturellen Fortschritt feiner und höher. Kathedralen baut der Mensch erst seit wenigen hundert Jahren...  
Vielleicht sagst Du einmal etwas zu Deinem Mut zum Sein.
Lieber Gruß
Dein Vetter C.

1 Kommentar:

Ukko Elhob hat gesagt…

Lieber Vetter dessen Name Programm ist...

lass mich die Antwort auf dein letzten Brief im Blog mit drei Bemerkungen beginnen.

Ersten, ich vermute, dass meine Antwort auf Deine Frage, woher kommt der „Mut zum Sein“, Dich wieder enttäuschen wird.

Zweitens und nur wegen der Faktenlage; die Schimpansen (biologischer Name „Pan“) und wir Menschen (biologischer Name „Homo“) hatten gemeinsame Vorfahren vor mehreren Million Jahren. Damit liegt unsere gemeinsame Vergangenheit vor der Schimpansenzeit, und auch vor dem Tier-Mensch-Übergangsfeld.

Drittens, Ich hatte nicht den Eindruck, dass Du missioniert. Ich wollte jedoch für uns Beide sicherstellen, dass ich historisch formuliert hatte: „Abstrakte theologische Konzepte sind in der Regel aufwendige Versionen einfacher und ansteckenden „spiritueller“ Volksvorstellungen. Und im Gegenzug, atheistische Konzepte sind aufwendige De-Konstruktionen dieser einfachen Vorstellungen und ihrer aufwendigen Weiterentwicklungen der Weltreligionen.“

Wenn Du als Antwort schreibst „...entsteht Religion immer wieder neu, und... das Nachdenken über einen unser Leben tragenden und stärkenden Sinn wird mit dem kulturellen Fortschritt feiner....“ finde ich meinen Aussage wieder, in sofern sie die historische Entwicklung von Religionen beschreibt. Die Entwicklung der Religion als Teil der gesellschaftlichen Verhältnisse war notwendig, so mein Verständnis, um die Entwicklung der Produktionsverhältnisse vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Städtebauer zu stützen.

Welchen Entwicklungsweg religiöses Denken in seinen frühesten Anfängen, wahrscheinlich bei der gleichzeitigen Herausbildung der Jäger und Sammler Gesellschaften und der biologisch modernen Menschenart(en) genommen hat, ist spekulativ. Es scheint jedoch wahrscheinlich, das alltagstaugliche Strukturen des größer werdenden Gehirnes, die zum intuitiven Erkennen von Zweck und Handelnden entstanden waren, auch anderweitig verwendet wurden. Wir Menschen haben die spontane Eigenschaft nach Sinn und Zweck zu fragen; wie sagtest Du „einen unser Leben tragenden und stärkenden Sinn“? Unsere Fähigkeit sich in Andere hineinzudenken (Theory of Mind) und mehrschichtige Einschätzungen von deren Absichten aufzubauen ist beeindruckend. Kinder brauchen mehrere Jahre, um diese Fähigkeit herauszubilden und ganz schlaue Schimpansen sollen einschichtige Einschätzungen schaffen.

Diese höchst menschliche Eingenart nach Sinn und Zweck zu fragen wird als „hyperaktives teleofunktionales Argumentieren (hyperactive teleofunctional reasoning) bezeichnet. Von dieser Eigenart machen wir Menschen reichlich und spontan im Alltag und Umgang miteinander Gebrauch; und es ist letztendlich diese Eigenart, die wir zur intuitiven Entwicklung von Gottesbegriffen als Erklärungsmuster verwenden.

Kulturelle Überarbeitung schärft diese Gottesbegriffe und verbreitert sie zu Religionen. A-theistisches Denken, das durchaus noch religiös sein kann (siehe Lin Yutang), hinterfragt die kulturelle Überarbeitung, de-konstruiert die Begriffe, und kann weitergehend nach dem Verständnis suchen wieso, entwicklungsgeschichtlich, diese Art zu Denken entstanden ist. Als Quintessenz bleibt dann die doppelte Einsicht, der Handlende bin ich und ich handele damit ich bin; actio cum ergo sum.

Damit sind wir bei Deiner Frage. Woher kommt der „Mut zum Sein“? Woher kommt, ganz persönlich, mein Mut zum Sein? Von nirgendwo her!

Mensch-Sein ist Mut zum Sein. Und damit sind wir bei Prometheus, (nach Goethe mit dem Lin Yutang nur teilweise gleicher Meinung wäre): „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst!.. Mußt mir meine Erde doch lassen steh'n, Und meine Hütte, die du nicht gebaut, und meinen Herd, um dessen Glut Du mich beneidest.... Wähntest du etwa, ich sollte das Leben hassen, in Wüsten fliehn, weil nicht alle Knabenmorgen- Blütenträume reiften? Hier sitz' ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, weinen, genießen und zu freuen sich, und dein nicht zu achten, wie ich!“

Eine gute, friedliche Nacht !