Während der Konferenz der Juden, Christen und Moslems in Potsdam ist mir besonders beim Referat des Jesuitenpriesters Thomas Michel noch einmal klar geworden, was ich bei den Frommen suche: ihren Glauben an die Gegenwart Gottes. Vielleicht habe ich deshalb, auf der Suche nach diesem Glauben, die Geschichten der frommen jüdischen Chassiden von Martin Buber besonders begierig gelesen und sie lange Zeit wie eine Bibel griffbereit neben meinem Bett liegen gehabt.
Die Chassiden, die ihren Namen davon ableiten, daß sie der chessed Gottes, seiner Treue oder Barmherzigkeit - Martin Buber übersetzt Huld - ihre eigene Treue entgegensetzen wollen, haben für die Gegenwart Gottes einen besonderen Begriff, die Schechina. Sie rechnen mit der Offenbarung Gottes in der Gegenwart der Welt und nennen sie Schechina. Sie beklagen oft, daß diese Gegenwart Gottes auf schmerzhafte Weise in der Welt fehlt, die Schechina ist im Exil sagen sie. Aber sie erleben es auch, daß sie sich mitten im größten Schmutz auf einmal zeigt, ich füge unten eine kleine Buber-Geschichte an, die das klassisch schön beschreibt.*
Es sind seltene Momente, in denen eine solche Vision geschieht, manchmal kann es mehrere Generationen dauern, bis einem der Chassiden endlich das Wunder begegnet, für einen kleinen Moment lang. Aber auf das tatsächliche Eintreten der Vision kommt es offenbar nicht an. Es reicht vollkommen aus, wenn man ein Leben in der Hoffnung auf die Schechina führen kann. Es ist ein Leben, das seinerseits im Exil ist, das aber von der Aussicht auf eine bessere Heimat getröstet und bestärkt wird.
Auf der Suche nach dem Ursprung des Begriffs Schechina bin ich auf das schöne Wort von den Flügeln der Morgenröte aus Psalm 139 (Vers 9) gestoßen:
Nähme ich die Flügel der Morgenröte und ließe mich am äußersten Meer nieder, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich ergreifen.
In dem Wort sich niederlassen steckt im Hebräischen der Stamm schachan, von dem schechina abgeleitet ist. Man kann sich die Bewegung Gottes auf die Welt hin also wie Flug und Landung eines Vogels vorstellen. Die Gegenwart Gottes, die Schechina, ist die Niederlassung Gottes.
Außerdem beschreibt das Wort von den Flügeln der Morgenröte auch einen unmittelbaren Aspekt der Schechina: sie hat auch dann, wenn ich sie nicht wahrnehme, ja sogar wenn ich ihr entfliehen will, einen unmittelbaren Anspruch auf mein Leben. Es ist ein gütiger, ein schützender Anspruch, das ist klar.
Ich habe mein Leben lang diejenigen Frommen als mir am nächsten empfunden, die sich dieser Gegenwart bewußt ausgesetzt haben, sei es als Hoffnung auf die Schechina, sei es auch als der Anspruch an das eigene Leben. Sie waren meine heimlichen Helden im Konkurrenzkampf der unterschiedlichen Vorstellungen von Frömmigkeit.
Nun kann man allerdings vor einer gewissen Irrationalität, die in einem solchen Glauben steckt, irgendwann einmal kapitulieren. Man sucht dann nach einen sichereren Fundament und findet es oft in einer Lebensweise, die auch ohne den unmittelbaren Bezug zu Gott in vernunftgemäßen Prinzipien dem Gedanken an Gott entspricht. Auch diese Frömmigkeit, manchmal orthodox, manchmal bürgerlich, meistens dem Leben so wie es ist verpflichtet, ist mir vertraut.
Am Anfang der theologischen Neuzeit hat Friedrich Schleiermacher diesen Schritt zur Rationalität hin getan, mit weitreichenden Folgen für die Christenheit. Er hat sich um das Jahr 1786 herum enttäuscht von den Herrnhuter Christen, den Chassiden seiner Zeit sozusagen, abgewendet, deren fromme Empfindungen sich trotz aller Mühen nicht auf ihn übertragen ließen, und hat sich selbst zu einem Herrnhuter höherer Ordnung, wie er sagte, erklärt. Er hat fortan den Glauben auf intellektuelle Art und Weise durchdrungen und ist damit Generationen von Theologen zum Leitstern geworden, die sicherlich sonst auf vielfältige Art und Weise an der rationalen Kritik der Moderne Schaden genommen hätten.
Ich war mir über eine lange Zeit nicht sicher, ob ich im Sinne von Schleiermacher ein einfacher Herrnhuter oder einer der höheren Ordnung sein sollte. Mittlerweile bin ich mir sicher, daß ich ersteres sein will, weil ich an die Schechina glaube.
Auch der Koran kennt die Schechina. Sie ist einerseits als täglicher Anspruch an den Gläubigen, sich der Gegenwart Gottes beständig bewußt zu sein, im ganzen Koran vorhanden. Sie kommt andererseits wörtlich auch als Sekina mehrfach im Koran vor, etwa in Sure 9,26, wo Gott seine Gegenwart auf den Propheten und seine Anhänger herabsendet, um ihnen beizustehen.
Meine moslemischen Freunde in Potsdam leben auf ihre Art und Weise in der Gegenwart Gottes. Sie beten die vorgeschriebenen fünf Gebete täglich, und auch wenn ich nur ganz entfernt etwas davon verstehe, was bei diesen Gebeten in ihren Köpfen und Herzen vor sich geht**, so weiß ich aus den Gesprächen mit Ihnen doch sicher, daß ihre Sehnsucht auf die Schechina gerichtet ist. Auch sie sind Herrnhuter der einfachen Ordnung, und das verbindet uns untereinander, auch wenn wir deutlich spüren, daß es kaum ein und derselbe Autor sein kann, der Bibel und Koran geschrieben hat. Es kommt nicht auf ein letztes sicheres Wissen um das Wesen Gottes an. Die Sehnsucht genügt.
* In der Gerbergasse
Auf einer Wanderung kam Rabbi Levi Jizchak gegen nachts in eine kleine Stadt, wo er niemand kannte. Er fand keine Unterkunft, bis ein Gerber ihn mit sich nach Hause nahm. Er wollte das Abendgebet sprechen; aber der Gerbergeruch war so durchdringend, dass er kein Wort über die Lippen brachte. Er machte sich auf und ging in das Lehrhaus, in dem kein Mensch mehr war. Hier betete er. Und als er betete, verstand er mit einem Mal, wie die Schechina, die der Welt einwohnende Gegenwart Gottes, ins Exil herabgesunken ist und wie sie gesenkten Hauptes in der Gerbergasse steht. Er brach in Tränen aus und weinte in einem fort, bis sich sein Herz über den Gram der Schechina ausgeweint hatte und er in Ohnmacht fiel. Da erschien ihm die Schechina in ihrer Glorie, ein überstarkes Licht in vierundzwanzig farbigen Stufen, und sprach zu ihm: "Sei stark, mein Sohn! Große Nöte werden über dich kommen, aber fürchte dich nicht; denn ich werde bei dir sein."
Aus: Die Erzählungen der Chassidim, Martin Buber, 1949
** Beim Abendgebet in der Berliner Moschee, von dem ich bereits berichtet habe, ist mir eine für mich neuartige Erkenntnis aufgegangen: ich habe von hinten die zu Boden geneigten Körper meiner Freunde und Bekannten gesehen, habe die Stimme des Vorbeters dazu gehört, habe wie immer nichts von alledem verstanden, es aber zum ersten Mal sympathisch und angemessen gefunden, was ich da vor mir geschehen sah. Ich kenne ja ihre Gottessehnsucht mittlerweile aus der Nähe und weiß, daß sie in ihren Herzen eine freundliche Nächstenliebe und Weltzugewandtheit hervorgebracht hat, an der ich mich freuen kann. Warum darf ich mich also nicht auch an ihren Gebeten freuen?
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