Du hast
vielleicht über Facebook und meinen Blog mitbekommen, dass mich in den letzten
Wochen das Buch „Ein säkulares Zeitalter“ von Charles Taylor sehr beschäftigt
hat. Einige meiner Erkenntnisse würde ich gerne mit Dir teilen und diskutieren.
Die wichtigste
Erkenntnis ist für mich: die Atheisten können damit aufhören, für ihre Weltanschauung zu
werben. Sie hat sich nämlich von alleine durchgesetzt, und fast auf der ganzen Linie.
Wir alle,
auch die Christen, planen weite Bereiche unseres Lebens, betreiben unsere Wissenschaft und arbeiten
vor allen Dingen mit unseren Computern ohne dabei notwendigerweise an die
Existenz Gottes zu denken. Der „säkularer Rahmen“ (secular frame) ist
gewissermaßen das, was wir denken, wenn wir nicht denken. Beim Computer würden
wir sagen, es ist die default option, die Einstellung, die von ganz
alleine gewählt wird, wenn sonst nichts anderes bestimmt wird. Und dieser
Rahmen ist für alle säkular, also ohne Berücksichtigung von Transzendenz.
Wir begegnen
uns, glaubende und nicht glaubende, sozusagen als Gleichgesinnte auf einem geebneten Terrain, auf dem
unser gemeinsames Reden und Arbeiten deshalb so relativ einfach von statten
gehen, weil wir von gleichen Grundannahmen ausgehen. Social
Imaginary nennt Charles Taylor dies, und es ist interessant nachzulesen,
wie er über die neuzeitliche Entstehung einer public sphere
erklärt, in der die Vereinheitlichung bestimmter Grundannahmen zustande kommt.
Es ist zur
Vorherrschaft einer rein säkularen Denkweise gekommen, das ist zunächst einmal eine gute
Nachricht für Atheisten. Es gibt aber auch ein Problem: einzelne Menschen
finden diesen „säkularen Rahmen" unbefriedigend und versuchen, aus dem Rahmen herauszutreten. Sie tun das nicht, weil sie religiös vorgeprägt sind, sondern
vielfach weil sie von dem in diesem Rahmen naturgemäß vorherrschenden Materialismus unbefriedigt sind und sich
wünschen, es könne sich ein irgendwie geartetes transzendentales Gebäude darüber
erheben.
Ich
las jetzt von einem Mann, der bei einer Wanderung am See Genezareth ein
transzendentales Erlebnis hatte, eine Form der Auflösung seiner persönlichen Grenzen, des Einsseins mit der ganzen Natur. Als er das Erlebnis seinen Freunden schilderte, sagten
diese: aber du bist doch Atheist! Später hat er ein Buch darüber geschrieben und darin erklärt, dass
dies keinen Unterschied macht, und dass jeder
Mensch ein Recht auf transzendentale Erfahrungen hat und auch die Möglichkeiten
dazu.
Wenn ich
diese Gedanken fortspinne, dann erscheinen mir unsere gelegentlichen
Diskussionen unter dem Titel „Glaube gegen Unglaube“ irgendwie überholt zu
sein. Wir sollten viel mehr darüber reden, welche Wege wir (vielleicht
gemeinsam) gehen können, um unserem menschlichen Wunsch gerecht zu werden,
jenen „Dingen zwischen Himmel und Erde“ nachzuforschen, welche die begrenzte
Welt der sinnlichen Wahrnehmungen übersteigt.
Wäre das ein
Ansatz für ein neues Gespräch?
Liebe Grüße
Dein Christian
Dein Christian
1 Kommentar:
Lieber Christian
vielen Dank für Deine Einladung zur öffentlichen Debatte über unsere säkulare, ach so religiöse Welt. Ich weiß nicht, ob Dein Blog dafür eine gutes Forum ist, aber (m)eine Antwort schulde ich Dir hier; über meine Beiträge auf "http://ukkoelhob.blogspot.be" hinaus.
Ich teile nicht die Ansicht, dass sich säkulare Einsichten im Selbstlauf in unseren Gesellschaften durchsetzen werden. Die Erkenntnisse der kognitiven Religionswissenschaften sprechen dagegen; siehe zum Beispiel Daniel Dennett "Breaking the Spell".
Knapp gesagt, die Entwicklung des Menschen, seine biologische Evolution (auch des "Gehirn-Geist-Komplexes") hat dazu geführt, dass unser Denken für "Übernatürliches" anfällig ist. Darüber hinaus hat die kulturelle Entwicklung starke Hindernisse geschaffen, die eine allgemeine kritischen Auseinandersetzung mit Religion behindern.
Eine atheistische Weltanschauung ist somit immer Ergebnis eines aktiven Denkprozesses. Dagegen scheinen, nach Meinung Einiger, Bekehrungserlebnisses mit einer sprunghaften Reaktion im Gehirn einher zugehen. Unabhängig, ob sich das Letztere bestätigen wird, das Erstere macht es wahrscheinlich, dass eine atheistische Weltsicht erarbeitet werden muss.
Dir einen guten Tag - Martin
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