Donnerstag, 2. Oktober 2014

Die öffentliche Sphäre


Nach dem Jahre 1700 bildet sich in Westeuropa etwas heraus, das bis heute unser Denken beeinflusst: die öffentliche Sphäre, the public sphere, wie Taylor sie nennt*.

Die Menschen beginnen damals an einem großen Markt von Nachrichten und Meinungen teilzunehmen, und zwar im Wege über die schnelle Verbreitung von gedrucktem Material, aber auch über öffentlich geführte Diskussionen . Sie nehmen sehr bald gemeinsam an, dass die hier virulenten Strömungen jeden Teilnehmer in gleicher Weise erreichen und beeinflussen. Am Ende steht für alle das sichere Gefühl, das zu wissen, was „man" denkt.

Am Leben gehalten wird diese öffentliche Sphäre  nicht durch den sicheren Erweis ihrer Wirksamkeit oder durch irgendwelche Überprüfungen, sondern durch die social imaginary, der sich in der öffentlichen Sphäre bewegenden Menschen**.

Taylor führt als Beispiel für social imaginary im Leben der heutigen Menschen die Vorbereitung einer politischen Demonstration an. Eine Gruppe von Menschen findet sich zusammen und diskutiert die möglichen Vorgehensweisen. Dabei dienen unausgesprochene Vorgaben, schematische Denkgewohnheiten dazu, den Teilnehmern konkrete Vorstellungen davon zu geben, wie etwa das Ordnungsamt den Fall einer solchen Demonstration behandelt, wie ein Stadtrat zu beeinflussen ist, welche Flugblätter welche Wirkungen auf die Bürger der Stadt haben usw. Hier kommen Erwartungen zusammen, die sich in keinem Lehrbuch finden, die aber oft erstaunlich gleichgerichtet sind.
Das heißt: hier gibt es „öffentliche Sphäre“, und sie wird von einer großen Zahl von Menschen in gleicher Weise wahrgenommen. Bis heute wird deshalb ganz offenkundig niemand getadelt, der in einer Diskussion die Behauptung aufstellt, ein bestimmter Vorgang werde „allgemein zu wenig beachtet“ oder eine Summe von Problemen sei „größer, als gemeinhin angenommen wird“.

Ich beobachte in den letzten Monaten verstärkt auf Facebook, dass besonders Minderheiten, die der Mehrheit ihrer Mitbürger vorwerfen, stiefmütterlich behandelt zu werden, immer wieder mit dem Vorwurf arbeiten, „die Presse" gebe ihr Anliegen in unzulässiger Weise wieder,  "die Öffentlichkeit" beachte es zu wenig oder tue durchgängig das eine oder andere, was zu Beschwerden Anlass gibt.
Ich habe mich oft gefragt, woher man diese Informationen hat. Liest man eine ausreichende Anzahl von Zeitungen? Hat man einen repräsentativen Querschnitt durch die öffentliche Meinung? Ich bin hier skeptisch, finde aber meine Skepsis immer dann gedämpft, wenn ich etwa beim Friseur die Gelegenheit habe, in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften zu blättern und tatsächlich überall so etwas wie einen allgemeinen Trend finde.

Nun ändert sich aber die öffentliche Sphäre mit dem Aufkommen der sozialen Medien, die sich über elektronische Wege verbreiten und die ein nicht mehr zählbares Feld an Informationen in sich aufnehmen und weitergeben. Hier erscheint es zumindest theoretisch denkbar zu sein, dass man durch bestimmte Filterfunktionen die Themen herauslesen kann, welche die Menschen beschäftigen. Vielleicht kann man sogar durch das Herausfiltern bestimmter Reizworte in etwa die Meinung der Menschen erraten.
Aber ist das Ganze tatsächlich noch eine einheitliche „Sphäre“, in der dann ein weiser Politiker den Rat befolgen kann, den man schon kurz nach dem Jahr 1700 den Fürsten und Königen gab, dass sie nämlich in diese öffentliche Sphäre hineinhorchen und sich ein Bild davon machen sollten, welche Erwartungen man im Volk an eine weise Staatsführung hatte? Immerhin war damals eine moderne Staatsphilosophie bis zum Sonnenkönig Ludwig XIV. (1638 – 1715) mit der Wirkung vorgedrungen, dass er seinem Sohn schriftlich mitgab, er möge daran denken, dass ihm nur solche Untertanen treu ergeben sein würden, die ihr persönliches Wohl beim König in sicheren Händen wähnten.  Deren Meinung musste man also erst einmal kennen, wofür man Zugang zur public sphere haben musste, von der man damals auch sagte, sie sei eine Republic of Letters.

Heute haben sich zwei Dinge geändert. Zum einen ist die öffentliche Sphäre exponentiell größer geworden. Zum anderen ist sie, wie ich schon sagte, mithilfe von bestimmten Filterfunktionen auswertbar. Wird das nicht am Ende dazu führen, dass man feststellt: die einheitliche öffentliche Sphäre, aus der man Informationen über den geistigen Zustand seiner Mitmenschen schöpfen könnte, hat es nie gegeben?


* als eins der wichtigsten Bücher über diese Sphäre nennt Taylor das 1962 erschienene „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas

** Etwas Ähnliches wie der Begriff social imaginary kommt offenbar schon bei Kant vor, der von dem "Schematismus der reinen Verständnisbegriffe" spricht.

Keine Kommentare: