Mittwoch, 31. Dezember 2014

Mein Jahr 2014


Mein Jahr begann mit dem Vorsatz, den ich in einer alten Sendung der BBC gefunden hatte: die Menschen anzufassen, ihnen die Hand zu geben, ihnen nahe zu sein. So wie ich den alten BBC-Film bei YouTube sah, wirkte er eigenartig und irgendwie außerhalb der Zeit: ich sehe einen Wissenschaftler namens Dr. Jacob Bronowski, wie er in einer Pfütze in Auschwitz steht, mit einer Hand voll schwarzem Schlamm vom Grunde der Pfütze, der Asche seiner Vorfahren, wie er sagt, und wie er weiter sagt, dass es nur


ein einziges Mittel gibt, die todbringende Überheblichkeit des einen Menschen über den anderen zu durchbrechen: we have to touch People (im Video bei Minute 2:18).

Das Familienoberhaupt der Beduinen
und seine kleine Tochter
Mit dem Vorsatz, Menschen zu berühren, ihnen nahe zu sein, auch von ihnen berührt zu werden, bin ich im Februar zu meiner zweiten Palästina-Wanderung aufgebrochen und habe die Nähe der Menschen in diesem Land auf beglückende Weise und als ein Geschenk erfahren. Ein bewegender Höhepunkt war die sternenklare Nacht in der Wüste bei den Beduinen von Rashayada, zwischen Bethlehem und dem Toten Meer. Hier war das Leben noch so, wie es sich zu Abrahams Zeiten abgespielt haben mag, und als wir den Hirten, der meinen Freund Hamze Awawde und mich einen kleinen Weg in die nächtliche Wüste hinaus geführt hatte und der sich dort nach Mekka wandte und sein Nachtgebet verrichtete, als wir ihn fragten, ob er Gott in der Wüste besonders nahe sei, antwortete er: ich bin Gott immer nahe.

Dass Gott der Welt nahe ist, weil er beständig in ihr wohnt, habe ich im weiteren Verlauf des Jahres in einem komplizierten, mir nicht in allen Teilen verständlichen Buch über den Philosophen Hegel nachlesen können, das mich mit seiner erkennbaren Grundüberzeugung vom in der Schöpfung wirkenden Weltgeist letztlich in meinem Glauben bestärkt hat. Der Autor des Buches ist der kanadischen Philosoph Charles Taylor, der außerdem ein großes Buch über das "Säkulare Zeitalter" geschrieben hat, das in der zweiten Jahreshälfte mein Lesen und Denken dann sehr stark bestimmt hat.
Gott ist in der Welt, aber wenn Charles Taylor und andere Recht haben, dann haben sich Gottes Gedanken so sehr in das allgemeine Weltverständnis des modernen Menschen eingesenkt, dass er am Ende glaubt, sein Leben ohne Gott führen zu können. Taylor schreibt im Detail darüber, wie die große, verändernde Kraft des Glaubens den Menschen zunächst half, aus alten Belastungen und Bindungen zu entkommen, wie deren Kinder und Enkel dann allerdings nicht mehr verstehen konnten, warum ihre Vorfahren den Glauben mit einer so immensen Intensität gelebt haben.

Mit einer vagen Vorstellung von Charles Taylor bin ich im August zur Hochzeit meiner jüngsten Tochter nach Sachsen-Anhalt gefahren und habe mich von der sehr liebenswürdigen Verwandtschaft meines Schwiegersohnes David - säkulare Menschen sie alle, viele mit einer tiefen Verwurzelung in der alten DDR - anrühren lassen und gleichzeitig versucht, sie meinerseits mit einer von Taylor inspirierten Rede anzurühren.
Die Hochzeit wurde im Havelland gefeiert, drei Tage lang, und war ein großes, versöhnliches Fest, auf dessen Höhepunkt sogar eine kirchliche Trauung möglich war - die erste seit vielen Jahren in der kleinen, fast verlassenen Kirche des Dorfes.

Von Charles Taylor ein wenig angefeuert habe ich mich im Oktober dann auf das Wagnis eingelassen, mit meinem Vetter Martin Bohle in einen öffentlichen, in meinem Blog nachzulesenden Briefwechsel zum Thema Atheismus und Gaube einzutreten. Der ganz große Friedensschluss, den Charles Taylor für möglich hält, weil alle modernen Menschen zunächst einmal in einem weitestgehend ohne Gott gedachten "immanenten Rahmen" leben, ist es nicht geworden, aber wir haben uns später auf der Beerdigung von Martins Vater, meinem Onkel Manfred, doch noch einmal Worte des Friedens gesagt. We have to touch people (and let them touch us).
Gottesdienstbesucher in Accra, Ghana
Große Freude hat mir am Ende des Jahres die Internet-Reise zu acht Kirchen in der ganzen Welt gemacht. Ich habe auch darüber im Blog berichtet und habe am Ende sogar eine Lösung für das von Charles Taylor aufgezeigte Dilemma gefunden, wie man die in die menschlichen Verhältnisse eingehende Kraft des Evangeliums nicht nur als gegeben annehmen (und vergessen), sondern sie in immer neuen Erinnerungen im Gottesdienst feiern kann. Ich werde Anfang Januar über den Besuch in einer schwarzen Kirche in Harlem berichten, in welcher der in der New Yorker Szene hoch angesehene junge Reverend Michael A. Walrond Jr. über die alten Worte aus dem fünften Mosebuch predigt: vergesst die Ordnungen Gottes nicht und erinnert euch daran, dass ihr Sklaven des Pharao gewesen seid (hier kann man die Predigt schon einmal hören). Möglicherweise kann so nur ein Nachkomme von schwarzen Sklaven reden, aber seine Predigt können wir alle verstehen: um dauerhaft frei zu sein, dürfen wir die alte Unfreiheit nicht vergessen.

Eins meiner schönsten Leseerlebnisse war die Wiederbegegnung mit meinem Lieblingsautor John Updike. Über sein Leben ist sieben Jahre nach seinem Tod eine erste große Biografie erschienen. Darin findet sich ein wunderbares Zitat über die Versöhnung zwischen dem Glauben an Gott und der realistischen Einsicht, dass wir alle triebgesteuerte Menschen sind. Ich hatte schon im Beduinendorf von Rashayada viel über die Auswirkungen des dort unmittelbar erlebbaren Gotteswortes „seid fruchtbar und mehret euch" nachdenken können. Bei Updike fand ich dann den Gottesbezug zu unserer Sexualität noch einmal auf eine zusammenfassende Formel gebracht: in der begehrenswerten Schönheit eines menschlichen Körpers gibt es eine Stelle, an der die Gnade Gottes sitzt. ...it is here that grace sits and rides a woman's body.
Möge die Gnade der göttlichen Gegenwart uns und unsere Welt niemals verlassen. Das ist mein Wunsch für das Jahr 2015.

In 2014 wurden in meiner Familie zwei weitere Enkelkinder geboren, das war eine große Freude. Den Tod vieler Kinder beim Bombardement von Gaza habe ich als großes Unrecht erlitten und den Glauben an Israels heilsgeschichtliche Sendung verloren, auch das war ein tiefer Einschnitt in mein Denken. Aber an Gottes liebevoller Gegenwart in der Welt will ich festhalten - um meiner Enkelkinder willen und um all der Menschen willen, die noch lange nach mir auf der Erde leben werden.   

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

...it is here that grace sits and rides a woman's body - Eine Stufe säkularer bei Italo Svevo: Le donne belle sembrano sempre dapprima intelligenti. Den Begriff der Intelligenz muß man nahe bei dem der Gnade sehen.