Dienstag, 22. November 2016

Reise ins Heilige Land (VIII): Wege der Erinnerung


Der polnische Autor Andrzej Szczypiorski (1928 - 2000) hat als junger Mann die deutsche Besetzung Warschaus erlebt. Kurz vor seinem Tod sagte er bei einem Vortrag in Bonn, die damaligen Ereignisse seien bei ihm lebendige Erinnerung, dagegen seien sie bei seinem nach dem Krieg geborenen Sohn bereits entferntere Geschichte. Und für seine Enkelkinder seien sie so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg.

Mich hat das damals beim Hören getröstet - das Vergessen kann ja friedensstiftend sein. Aber in Yad Vashem hat sich etwas in mir gesträubt, die Erinnerung als etwas anzusehen, das man mit der Distanz erlebt, die man zur Geschichte ferner Generationen hat. Der Massenmord an den Juden ist ja ein erschreckend modernes Ereignis - ein technisch hochentwickeltes Volk überlegt kalten Blutes, wie man mit industrieller Präsizion Millionen von schuldlosen Lebewesen töten kann.


Nureddin ist 25 Jahre nach dem Krieg in der Türkei geboren. Für ihn sind die Morde in einem anderen Land und zu einer anderen Zeit geschehen. Aber auch er reagiert mit körperlichem Widerwillen auf die Zeugnisse von Grausamkeit und Elend.

Nein, erben möchte Nureddin die deutsche Verantwortung für diese Geschichte nicht, auch wenn ich ihm nahelege, sie als Erbe zusammen mit den Autobahnen, Rentenversicherungen und Wasserleitungen dieses Landes anzunehmen (Avi nimmt hier Nureddins Partei und sagt, das ist nicht sein Erbe). Aber Parallelen ziehen will Nureddin doch: in diesen Tagen und Wochen werden viele seiner Freunde von der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen in fast gleicher Weise verfolgt wie die Juden damals. Immer wieder bleibt er stehen und sagt: "Das geschieht heute genauso in der Türkei!"

Eine solche Reaktion könnte typisch werden für zukünftige Besucher der Gedenkstätte. Man wird den Holocaust nicht vergessen, wird aber neue Gräuel an seine Seite stellen. Ich weise im Gespräch mit Nureddin auf die Einzigartigkeit des Holocaust hin. Die bestreitet er auch nicht. Ich lerne aber später von Hamze, dem Palästinenser, der schon als Schüler angefangen hat, Yad Vashem zu besuchen und auch andere Palästinenser dorthin gebracht hat, dass die palästinensischen Besucher jetzt häufig ebenso wie Nureddin reagieren und sagen: das geschieht auch bei uns und an uns.

Yad Vashem wird wohl in Zukunft mit solchen Reaktionen rechnen müssen Ich bin sicher: die ewige Erinnerung an die Schande, die zwischen 1933 und 1945 von meinem Land aus geschehen ist, wird auch dann nicht verblassen, wenn sich im Kopf und im Herzen der Besucher andere Schandtaten dazugesellen. Zu hoffen ist nur, dass Menschen aus der Geschichte lernen,"Nie wieder!" sagen und so helfen, die Zahl der Schandtaten zu vermindern.

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