Dienstag, 30. September 2008

Am Ende eines Sabbatjahres




Mit dem heutigen 30. September, dem 1. Tischri im jüdischen Kalender, beginnt in Israel das neue Jahr 5769. Nach orthodoxer Zählung ist es auch der Anfang eines neuen Zyklus von sieben Jahren, an dessen Ende 5775 ein Sabbatjahr steht. In einem solchen Jahr lassen die frommen Juden ihre Äcker ruhen und ihre Fruchtbäume und -sträucher unabgeerntet. Am Ende dieses Sabbatjahres shmita soll sogar eine Schuldenerlaß für alle Menschen im Land ausgesprochen werden. Die englische Ausgabe von Wikipedia hat über dieses shmita-Jahr viele detaillierte Informationen.

Gestern, sozusagen am jüdischen Silvester, ist das Sabbatjahr des letzten shmita-Zyklus zu Ende gegangen. Der Kommentator der Jerusalem Post ist mit der festen Erwartung zu Bett gegangen, daß es am Ende dieses Sabbatjahres ein globales shmita mit einem Erlaß von $ 700.000.000.000,- für das amerikanische Finanzsystem geben würde, und das ausgerechnet an dem Tag, der genau den orthodoxen Vorschriften entspricht.

Heute morgen konnte er und wir alle mit Schrecken nachlesen, daß der amerikanische Kongreß 228 : 205 gegen den Schuldenerlaß gestimmt hat. Keine gelungenes Ende eines Sabbatjahres also.

Das Zusammenfallen von shmita und Kongreßbeschluß kann unangenehme Assoziationen heraufbeschwören. Was wäre, wenn die Kongreßabgeordneten sich in Kenntnis der jüdischen Gebräuche gegen einen Schuldenerlaß ausgesprochen haben? Sie wissen zumindest um das jüdische Neujahr heute, es ist ein freier Tag für den Kongreß*. Haben sie vielleicht unter Anderem auch deshalb gegen das Entschuldungspaket gestimmt, um zu zeigen, daß man nicht bereit ist, für die Juden einzutreten und Steuergelder zu opfern? Immerhin gibt es diffuse Querverbindungen zu den Ressentiments gegen Wall Street, die dunklen Figuren hinter dem ganzen Finanzskandal sind vielfach jüdischer Abstammung - im Zentrum Alan Greenspan, der langjährige Chef der Zentralbank, dessen aufgedrehter Geldhahn angeblich für die Misere verantwortlich ist, ebenso Ben Shalom Bernanke, sein Nachfolger mit dem Rabbi-Bart.

Man könnte an die unterlassenen Hilfeleistungen für die Juden im Zweiten Weltkrieg erinnert werden. Ganz offenkundig hat man damals seitens der USA jüdische Emigration behindert, hat militärische Einsätze wie die Bombardierung des Schienenweges nach Auschwitz unterlassen, weil man den Krieg nicht für die Juden führen wollte. Eine breite antisemitische Strömung in den USA (mit Henry Ford als prominentestem Sprecher) hätte der Regierung große Probleme bereitet, wenn auch nur der Anschein erweckt worden wäre, es würden amerikanische Soldaten für jüdische Interessen ihr Leben lassen.

Dies mit dem gestrigen Ende des Sabbatjahres und dem Schuldenerlaß für die Finanzmärkte zu verbinden, ist sehr weit hergeholt, ich weiß. Aber es bleibt eigenartig, wie sich in diesen historischen Stunden Dinge untereinander verbinden.

*Spiegel-online beschwert sich sehr darüber, daß deshalb heute die Abgeordneten für zwei Tage nach Hause gefahren sind.

Samstag, 20. September 2008

Nichts ist schwerer zu ertragen …





Scuol / Schweiz, letzter Tag

Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen. Mit diesem Goethe-Reim* im Herzen wird uns der Abschied von diesem perfekt schönen Land etwas leichter. Es ist tatsächlich so, daß man angesichts von vielen großen Eindrücken ringsum, die wiederum zwangsläufig, ja verpflichtend zu einem Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit führen müßten, manchmal von dem Gedanken belastet wird, daß man allen diesen wunderbaren Dingen im Grunde innerlich nichts entsprechendes entgegenzuseten hat.

„Kinder, wißt ihr, wie gut ihr es habt?“ mahnte uns unsere Mutter an schönen Urlaubstagen (wir wußten es natürlich und wußten es doch nicht), und entsprechend steht es dann an Tagen wie den vergangenen wie eine unerfüllbare Maxime über jeder einzelnen Stunde: „Sei glücklich!“ Es ist nicht zu schaffen.

Ich bin an manchen Morgen mit der Nachwirkung düsterer Träume, dem üblichen Gemisch berechtigter und unberechtigter Alltagssorgen älterer Menschen, wachgeworden und hatte dabei gleichzeitig den Blick auf die wunderbare Bergwelt, die mich zum Fenster hinein grüßte. Ich habe dann versucht, das alles unter einen Hut zu bringen, die Probleme, die ich mit mir herumschleppe und gleichzeitig das Bewußtsein, mich in einer Hoch-Zeit meines Lebens zu befinden. Aber es paßte alles irgendwie nicht zueinander.

Das Glück der letzten Tage ist wie eine schöne Musik gewesen, die man mit Nebengeräuschen vorgespielt bekommt. Manche Ansichten von hohen Aussichtspunkten aus, waren getrübt vom vergossenen Schweiß des Aufstieges, der in den Augen brannte. Manche Panoramablicke auf langen Wanderungen waren wegen der müden Füße nur halb so genußvoll, wie es die Fotos, die man später betrachten wird, glauben machen werden.

Aber trotzdem: es ist Glück gewesen.



Und es war an vielen Orten ein doppeltes Glück, weil nämlich die Erinnerung zurückkam an die Zeiten mit den Kindern, mit denen wir hier vor zuletzt zwölf Jahren Urlaub gemacht haben. Matthias als der Jüngste war damals 9 Jahre alt.

Daß wir ihnen die Schönheit der Berge gezeigt haben, daß wir sie in eine teilweise unberührte, teilweise in ihrer Kraft kaum zähmbare Natur geführt haben, das erfüllt mich in der Erinnerung mit tiefer Dankbarkeit und Genugtuung. Sie haben es gesehen! habe ich oft gedacht, habe mich manchmal auch daran erinnert, wie schön es damals war. Auch damals ging es nicht ohne Nebengeräusche ab, ich mußte die Touren in die Berge oft gegen mancherlei Widerstand organisieren.

Meine Kinder sagen mittlerweile, ich hätte ihnen damals mehr Freiheiten lassen sollen, ihr eigenes Programm zu organisieren, aber ich erinnere mich daran, wieviel Kraft es schon gekostet hat, sie wenigstens jeden zweiten oder dritten Tag für ein paar Stunden aus ihrem gewohnten Programm hinaus und in die Berge zu locken. Aber sie sind mitgegangen, und ich glaube, daß sich das Panorama der Dreitausender auf der Südseite des Inn unvergeßlich in das Herz eines jeden einprägt, der den Höhenweg von Guarda über Ardez nach Ftan und Scuol nimmt (wir gingen ihn am Dienstag und erinnerten uns an Einzelheiten des damals mit den Kindern gegangenen Weges).

Das Zusammenspiel der ewigen Berge und der vom Schönheitssinn der Menschen und von ihrer Tapferkeit und Kraft zeugenden alten Besiedlungen der Menschen hoch auf der Nordseite des Flusses ergeben zusammen einen in dieser Form auf der ganzen Welt sicherlich kaum ein zweites Mal zu findenden Eindruck.

Glücklich der Mensch, der Bilder davon in seiner Seele nach Hause trägt.

* So wie er häufig zitiert wird. Wörtlich heißt es wohl Alles in der Welt lässt sich ertragen, Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen. Aus Goethes Sammlung „Sprichwörtlich“ von 1815.

Freitag, 19. September 2008

Auf den Spuren von Ludwig Erhard





Scuol / Schweiz

Hier ganz in der Nähe hat sich auf einem Berggipfel des Engadin in den Zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwas Wichtiges für die Deutsche Entwicklung nach 1945 ereignet, psychologisch betrachtet. Der Student Ludwig Erhard, geboren 1897, wurde zur Abschlußprüfung zwecks Erwerb des Doktortitels von seinem Frankfurter Professor Franz Oppenheimer in dessen Urlaubsort Celerina eingeladen. Und da Oppenheimer den ihm lange und gut bekannten Schüler nicht mehr wirklich befragen sondern mit ihm ein paar angenehme Tage verbringen wollte, lud er den fußschwachen und im Ersten Weltkrieg schwer an der Schulter verwundeten Erhard kurzerhand zu einer Bergwanderung auf den Gipfel des Corvatsch (3.451 m) ein.

Die ungewohnte Anstrengung wurde dem bergunerfahrenen Erhard reichlich belohnt: auf dem Gipfel angekommen verlieh ihm der Professor feierlich die Doktorwürde „zum höchsten Doktor in Europa“.

Vermutlich hat dieses Erlebnis auf Erhard menschlich ungemein stärkend gewirkt. Eine erfolgreich überstandene Bergtour, wenn möglich noch mit der Erreichung eines Gipfels oder einer Paßhöhe kann ja eine motivierende Langzeitwirkung haben – wer die Problem oben in der Höhe bewältigt hat, dem erscheinen auch die täglichen Probleme in den Niederungen des Lebens nicht unüberwindlich.

Erhard hat bekanntlich nach 1945 viele mutige Entscheidungen bei der Einführung der Mark getroffen, wer weiß, vielleicht manchmal mit den Bildern vom Piz Corvatsch im Kopf.

Wir sind auf Erhards Spuren dem Piz Clünas (rechtes Foto, 2.793 m) zumindest nahe gekommen. Etwa 300 m unter dem Gipfel sind wir angesichts des nahen Abends allerdings nicht weitergegangen und haben uns auf den Heimweg gemacht.

Wenige Tage später hat Christiane dann bei einer Autotour über abenteuerliche Serpentinen unseren Skoda sicher auf das Stilfser Joch, der mit 2.757 m zweithöchsten Paßstraße Europas*, gelenkt, trotz einsetzendem Schneefall. Sie hat danach allerdings nicht von Stärkungserlebnissen erzählt, wie sie überhaupt Bergabenteuer lieber anderen überläßt.

Ich persönlich liebe die überstandenen Gefahren der Berge dagegen sehr, wobei ich sie allerdings ebenfalls möglichst zu minimieren suche. Irgendwie möchte ich hier oben ein wenig von meiner früher fast krankhaften Höhenangst verlieren, das gelingt aber nur teilweise.

Bergsteiger müßten wegen der vielen überstandenen Gefahren immer frohe und selbstbewußte Leute sein, sagt man sich. Es ist dann enttäuschend, im Fernsehen einen griesgrämigen, kleinlich auf sein Renommee bedachten Reinhold Messner zu erleben. Berge können den Menschen offenbar auch klein machen.

* Höher unter den asphaltierten Pässen ist nur noch der Col de l'Islain in Frankreich mit 2.770 m.

Donnerstag, 18. September 2008

Maler und Schreiber





Scuol / Schweiz

Die schönste Zeit am Tag beginnt, wenn Christiane ihren Malkasten öffnet und auf besonderem Papier und mit Materialen, die teilweise noch mein Vater angeschafft hat, beginnt, Aquarelle zu malen. Das kleine Appartement hier füllt sich nach und nach mit ihren bunten Bildern, die sie – wie ich meine: mit einigem Geschick – von Vorlagen bekannter Maler oder von Fotos abmalt. Ihre Vorbild sind Hermann Hesse, von dem sie ein Buch mit Aquarellen hat, und Klaus Fußmann, der Lehrer unseres Maler-Vetters Christopher Lehmpfuhl. Christopher malt in Öl, das läßt ihn als Vorlagengeber erst einmal ausscheiden.

Ich sitze dabei – wie jetzt – schreibend mit dem Laptop auf dem Schoß nicht weit von ihr entfernt und freue mich an der Illusion, dies hier wäre wohl so eine Art von Künstlerkolonie! Zwar ist kein van Gogh hier, auch kein Thomas Mann, aber zwei Leute, die angefangen habe, das Geschehen um sie herum genauer zu beobachten, weil sie es später einmal auf ihre jeweils eigene Weise wiedergeben wollen.

Eigentlich malt und schreibt man für sich allein. Man festigt dabei die Eindrücke, die man zuvor gesammelt hat, ergänzt sie, liest nach (Wikipedia ist eine wunderbare Welt für sich!) und stellt einen kleinen Ausschnitt zusammen, den man für erwähnenswert hält. Ob einer die Bilder ansieht, die Texte liest? Fast ist es gleichgültig, aber geschmeichelt ist man schließlich doch, wenn man, wie ich über „sitemeter“ erfahre, daß mein Blog 80 mal pro Woche aufgerufen wird. Danke Leser! Ja, D i c h meine ich, Hallo! Auf jeden Fall gibt man sich etwas mehr Mühe und fragt sich, ob das alles überhaupt jemanden interessiert.

Oft verneint man diese Frage beklommen und läßt den Text dann doch stehen. Solche Kritiklosigkeit unterscheidet einen am Ende von Thomas Mann – nicht von van Gogh, denn der hat seine Bilder ja ebenfalls nicht verkaufen können und sich nicht darum geschert, ob die dicken Striche beim Publikum ankommen oder nicht.

Eins gewinnt man auf jeden Fall: ein besseres Augenmaß für die besonderen Leistungen der wirklichen Maler und Schreiber. Nietzsche hat das einmal so formuliert: Wer die Kunst kritisieren will, schaffe zuvor erst einmal selbst ein eigenes Kunstwerk. Ich habe das Originalzitat im Internet nicht finden können. Vielleicht heißt es ja darin auch: er versuche sich zunächst einmal an einem eigenen kleinen Werk.
Wie auch immer – die Freude am werkeln war einer der vielen Lichtpunkte in diesem schönen Urlaub.

Mittwoch, 17. September 2008

Entschlacken





Scuol / Schweiz

Die Familien meiner väterlichen und mütterlichen Großeltern unterschieden sich in ihrem Lebensstil, die mütterliche Seite war vom Bildungsbürgertum geprägt, die väterliche eher vom Besitzbürgertum. Die Unterschiede waren so stark, daß es die Ehe meiner Eltern an manchen Tagen in arge Spannungen versetzte. In einem aber waren sich alle, Eltern und Großeltern, immer einig: im Segen naturheilkundlicher Verfahren. Kalte Wassergüsse, kathartische Klistiere, nasse Wadenwickel und andere Foltermethoden (als höchste Strafe den Ganzkörperwickel, genannt Packung) wurden uns Kindern von der gesamten Großfamilie ohne Unterschied im Krankheitsfall befohlen, so daß es für uns nirgendwo eine Gnadeninstanz und entsprechend kein Entkommen gab.

Der menschliche Körper in seinem Inneren war, Grundanschauung für sie alle, auf eine besondere Art verdorben und verschmutzt und mußte deshalb auch auf eine besondere Art gereinigt, „entschlackt“ werden. Ich habe diesen Glauben an naturgegebene oder erworbene „Schlacken“ mit der Muttermilch aufgesogen und ihn eigentlich erst im Alter zögernd in Frage gestellt. Können menschliche Körperzellen, so frage ich mich, tatsächlich eine Art von Schmutzrand bilden, den man durch kräftiges Spülen oder durch den Zusatz von bestimmten, in alle Winkel dringenden Wirkstoffen wieder wirksam herauswaschen kann?



(aus einer Hinweistafel an einem Wanderweg in der Nähe der Luziusquelle)

Je länger ich darüber nachdenke, desto unwahrscheinlicher erscheint mir diese Theorie. Der menschliche Organismus nimmt Kraut und Rüben in sich auf und sucht sich von allem das Beste heraus. Gifte besiegt er mit Hilfe von mancherlei Immunstoffen, sie werden ihm nur zum Problem, wenn die Dosis eine kritische Grenze übersteigt. Umgekehrt gleicht er den Mangel an notwendigen Substanzen auf vielfältige Weise aus. Würde er tatsächlich auch Schlacken anlagern, so wie ein Hochofen für Kohle und Stahl? Dafür erscheint mir mein Körper zu gewitzt zu sein.

Nun wäre aber ohne den Glauben an Schlacken und die Hoffnung auf „Entschlacken“ der Tourismus in diesem schönen Teil der Schweiz nicht denkbar. Er begann nämlich mit der Endeckung mineralischer und salziger Quellen unweit von Scuol und dem Glauben an die heilsame, „entschlackende“ Wirkung der dort aus der Tiefe der Erde sprudelnden Wässer. Könige und Fürsten pilgerten in der Folge zu den Quellen des Unterengadins. Sie alle wollten die Schmutzränder ihrer hochwohlgeborenen Leiber loswerden.

Vermutlich hat es ihnen geholfen, denn sie kamen wieder und brachten im Gefolge andere Schlackenträger mit sich, mit der Zeit auch Bürger und Bauern. Es wurden Straßen, Hotels und Bergbahnen für sie gebaut, heute profitiere ich davon.

Die 25 Schweizer Franken allerdings (€ 16,-), die ich für zwei Stunden Baden in warmen und kalten Quellen, salzig und süß, im „Buogn Engiadinia“, dem modernen „Engadiner Bad“, bezahle, schmerzen mich, denn der ganze Aufwand um ein paar Kubikmeter aufgesammeltes Badewasser ist in Remscheid für weniger als die Hälfte (€ 7,-) zu haben. Nur entschlackt das Wasser dort nicht.

Dienstag, 16. September 2008

Heilandsgesichter



Scuol / Schweiz

Der junge Mitarbeiter des Nationalparks, dem wir im Val Mingèr begegnen, hat das typische freundliche Schweizergesicht, das ich hier oft gesehen habe, und von dem ich nach langem Nachdenken über sein Wesen sagen möchte: es ist ein Heilandsgesicht.

Es gibt diese besonderen Gesichter hier, Gesichter die Ruhe und Frieden ausstrahlen, Gesichter bei denen man zu Hause sein möchte, von denen man sicher ist, daß hinter ihren Stirnen und ihren Augen keine bösen Pläne vorhanden sind.

Ob es an dem langen Frieden liegt, den dieses Volk genossen hat, oder an der langsamen Sprache der Bergvölker, die besser für das Zuhören als für das Reden geeignet ist, ob sich hier in der Höhe ein Bewußtsein gebildet hat, daß man in den Flachländern ringsum eine sündige Welt vermuten muß, und daß man deren Schuld nur mit unendlicher Geduld begegnen kann – wie auch immer: die Schweiz hat den Typus des langmütigen Menschen hervorgebracht, der ohne große Anstrengung auch Züge des Erlösers annehmen kann.

Es ist wohl kein Zufall, daß Jim Caviezel, der Jesus-Darsteller in dem berühmten Passionsfilm von Mel Gibson, Schweizer Abstammung ist, romanischer sogar, der Großvater stammt aus Graubünden, der Name Caviezel kommt hier im Engadin häufig vor.

Kann man sie zum Zorn reizen, diese Lämmer hier in diesem Land? Kann man herausfinden, was sie mit der ganzen angestauten Wut machen, die sie über die niederdeutschen Meiers und Müllers haben müssen, die hier Jahr für Jahr wie die Heuschrecken eingefallen kommen, aus der Tiefebene herauf, und die mit ihrer Ungeduld und ihrer schnellen Zunge den Frieden der Berge stören?

Von den Österreichern weiß man, daß sie das Ventil haben, uns „Piefkes“ zu nennen und sich im Vergleich mit uns für etwas Besseres zu halten, weil man sich still im Glanz alter Wiener k. u k. Zeiten sonnen kann, einem Glanz, an den Berlin nie herangekommen ist.

Haben die Schweizer vielleicht einen vergleichbaren Weg, ihren Mißmut abzuführen? Ich vermute: nein. Aber ich meine, ein Mittel erkannt zu haben, mit dessen Hilfe sie doch alle am Ende noch auf ganz eigene Weise den Spieß herumdrehen. Sie schreiben – eine Rechnung.

Die Preise sind hier alle so gesalzen, daß man wohl am besten vorsorglich ein frommes Gesicht macht, wenn man sie dem Zahlenden mitteilt.

Solche wirtschaftliche Vernunft muß nicht die Kehrseite vom Heiland-Sein bedeuten. Im Gegenteil: vielleicht ist das a u c h ein Aspekt der Frömmigkeit, daß eben das Teuerste gerade gut genug ist, um sie in das eigene Leben einbeziehen zu dürfen.

Montag, 15. September 2008

Cusdrina



Scuol / Schweiz

Hier am Ort lebt in einem schönen alten Engadiner Haus meine Cousine Ruth mit ihrer Familie. Sie war die erste, die Scuol sozusagen für die Großfamilie erschlossen hat, als sie vor über zwanzig Jahren eine Stelle in einem der hiesigen Hotels annahm. Ihre Söhne Elias, 16, (im Bild in der Hautür in der Straße Somvi), und Simeon, 14, sind hier geboren und haben auf der Schule Romanisch zu sprechen gelernt, in den letzten Jahren im noblem Hochalpinen Institut, dem Engadiner Gymnasium, im Nachbarort Ftan wunderschön gelegen. Es ist ein Internat an die Schule angeschlossen, welches Schüler aus der ganzen Welt anzieht.

Vom Paß her sind die beiden Söhne Deutsche, auch von der Sprache und der Vorliebe für unsere Nationalmannschaft. Vom Vater Costa haben sie griechisches Blut, unterhalten kann man sich mit ihnen mittlerweile in vier oder fünf Sprachen. Für mich sind sie meine griechisch-römischen Neffen.

Costa ist ein wunderbarer Fotograf, der immer traumhaft sicher den richtigen Moment für den Auslöser trifft, den Moment also, den ich immer ebenso sicher verpasse. Er fotografiert im Winter die Sporttreibenden des örtlichen Robinson-Clubs im Schnee und im Sommer die Wassersportler eines anderen Robinson-Clubs in seiner Heimat in Griechenland. Für ihn ist noch Sommer, er kommt im Oktober in die Schweiz zurück.

Ruth ist meine jüngste Cousine von der väterlichen Seite her und war früher zusammen mit meiner jüngsten Schwester Esther das für die witzigen Situationen zuständige Gespann in der Großfamilie. Von dieser Begabung hat der Ernst des Lebens ihr glücklicherweise nicht viel wegnehmen können, wir haben vorgestern viel zusammen gelacht.

Ihre beste Freundin Elisabeth , die wir bei Ruth kennenlernten, kommt aus Südtirol und konnte uns bezüglich unseres Verwandtschaftsgrades den italienschen Unterschied zwischen cugina (Cousine) und cucina (Küche) klar machen. Die freundliche Sara, die uns in der Gaststätte „Trü“ die Pizzas servierte, half dann auch noch mit dem romanischen Begriffspaar: hier heißt die Küche ähnlich wie im Italienischen cuschina die Base dagegen cusdrina.

Wohlergehen möge es der Cusdrina aus dem Engiadina!




Hier Mit Sohn Simeon.

Samstag, 13. September 2008

Alte Künste



Kloster Müstair / Schweiz

Auf der östlichen Seite des Ofenpasses gelangt man hinunter in ein Seitental, das in den südtiroler Vinschgau mündet, dem breiten Tal der Etsch, dem Fluß aus der ungeliebten ersten Strophe des Deutschlandliedes von Hofmann von Fallersleben, 1841 auf Helgoland komponiert. Man gelangt die Etsch hinunter nach Meran und Bozen und später nach Verona und bis in die Adria, die Mündung liegt in der Nähe von Venedig.


Das Seitental davor gehört noch ein Stück zur Schweiz, genau: bis zum uralten Kloster Müstair (Fotos aus dem Internet). Dort soll um das Jahr 800 herum König Karl der Große beim Überqueren des nahen Umbrail-Passes durch starkes Unwetter in Not geraten sein und soll danach im Tal dieses Kloster gegründet haben, aus Dankbarkeit.

Die Legende ist nirgendwo historisch zu belegen, aber die Balken der alten Klosterkirche sind vor wenigen Jahren auf ihr Alter untersucht worden und stammen tatsächlich aus der Zeit um 750. Nach und nach hat man in den letzten Jahren den Wert der uralten Bausubstanz, die um das Jahr 1450 gotisch umgestaltet wurde, erkannt, hat die alten, teilweise übermalten Fresken aus der Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger, der „Karolinger-Zeit“, wieder freigelegt, zu ihrem Schutz sogar die Heizung entfernt, so daß die Benediktinerinnen im Winter für ihre regelmäßigen Gebete in eine andere Kapelle ausweichen müssen, und hat sich auf diesem Weg das Unesco-Gütesiegel „Weltkulturerbe“ erworben.

Die uralten Bilder bestätigen dieses Prädikat. Sie führen den Betrachter in einer Zeitreise sozusagen mit dem Aufzug in ungeahnt tiefe Stockwerke. Die rund 800 Jahre zurück bis zum Bau des Kölner Doms (um 1225) sind wenig im Vergleich zu den 1200 Jahren bis nach Müstair hinunter. Hier sind eher die Ikonen der Hagia Sophie (um 500) nahe, das Mittelalter ist im Kirchenraum von Müstair noch Zukunft.


Ob wir etwas von den Menschen, die diese Kirche in Urzeiten einmal ausgemalt haben, wissen? Für mich verbergen sie sich hinter ihren formalisierten Bildern mehr als daß sie sich zeigen.

In der Kirche sangen um Fünf die Benediktinerinnen des Klosters ihre Vesper, unsichtbar für uns, von der Empore hinunter. Der Gesang erklingt hier seit 1200 Jahren täglich, mit wenigen Unterbrechungen wegen Krieg, Feuer und Not. Auch der Gesang verbirgt die Sänger mehr als daß er sie zeigt. Vermutlich muß man erst einmal selbst viele Jahre Tag für Tag die Vesper und die anderen Tagesstationen gesungen haben, um den Sinn zu verstehen.

Man sang in Deutsch, Vaterunser und Avemaria. Die Dialektfärbung war unüberhörbar „gebänädait ist die Frruucht deinäs Laibäs“. Alles auf einem Ton.


Im Nachbarort St. Maria hat eine Handweberei mit öffentlicher Hilfe den Betrieb aufgenommen und bildet vier junge Mädchen zu Weberinnen aus, „Textilgestalter“ im Amtsdeutsch. Man kann ihnen gegen Eintritt bei der Arbeit zusehen und sich von ihnen noch einmal die mechanischen Grundlagen ihrer Arbeit erklären lassen. Viele Jahrhunderte lang war der Preis, den man für die „fruits of the loom“, die Früchte des Webstuhles zu bezahlen bereit war, die soziale Grenzlinie, an der wirtschaftliche Gerechtigkeit prüfbar und oft zerstört wurde. Reichtum und Elend entschieden sich an den Preisen, die man den Webern zu zahlen bereit war.

Das Heraufkommen der Maschinen machte das Handwerk zu einer unbezahlbaren Kunst. 800 m webt die Maschine in der Stunde, sagte uns die Leiterin der Werkstatt, 80 cm der Mensch. Trotzdem bildet man hier aus, die produzierten Designer-Stücke sind sündhaft teuer, finden aber offenbar guten Absatz bei den wohlhabenden Ferienhausbesitzern, die ihre Bauernmöbel aus Arvenholz um passende handgewebte Leinenstoffe ergänzen wollen.

Weberei geschieht immer im rechten Winkel zwischen „Kette“ und „Schuß“. Das Weberschiffchen schießt den Querfaden (Schuß) zwischen die je nach Muster von einer „Litze“ hoch- und niedergehaltenen, auf dem Webstuhl fest aufgespannten Längsfäden (Kette). Die Litze hängt in Rahmen (Schäften), von denen einige Webstühle in St. Maria bis zu 15 aufwiesen.

Die Weberin tritt ein Holzpedal, einer Kirchenorgel ähnlich, und wählt damit den Schaft und seine Litze aus. Wenn der Faden durchgeschossen ist, wird er mit einem Kamm (unter dem breiten Balken im Vorderfund des Fotos) an den bereits fertigen Stoff angedrückt. Nur wenn man den Druck der Hand auf dieses „Webblatt“ immer in der gleichen Weise ausführt, entsteht ein gleichmäßiges Stück Stoff. Jeder Weber sollte deshalb, sagte man uns, möglichst sein Stück Arbeit von Anfang bis Ende allein fertigstellen.

Die Leiterin der Manufaktur war eine junge Frau mit den ebenmäßigen bräunlichen Gesichtszügen, die das Bild der Schweizer „Heidi“ in der ganzen Welt beliebt machen. Ein winziges Nasenpiercing störte nicht, sondern überhöhte den angenehmen Doppeleindruck von äußerer Schönheit und innerer Gutheit, den man in Deutschland nur noch selten findet*.

Ich habe vor Jahren auf einer Hütte meinen damals 12jährigen Sohn Matthias auf eine ähnliche Heidi, die mit uns am Tisch saß, aufmerksam gemacht und ihm empfohlen, bei der Brautwahl auf diesen Typus zu achten. Er wird am 17. September 21 Jahre alt. Mal sehen, was er aus meiner Empfehlung macht.

* Tochter Christinas Gastvater Jim Smith in Florida, sagt es in seinem breiten Südstaaten-Slang so: „Y’now Chrish-chian, some women’re purdy (pretty) – but they ain’t good, an’ summ’a them are good – but they ain’t purdy. We are lucky men, because our’s are purdy and good.“

Mond über der Clemgia-Schlucht



Scuol / Schweiz

Beim Anblick des leuchtenden Mondes, der am 16. September zum Vollmond wird, muß ich oft an die Moslems denken, die den Mond in seinen Phasen derzeit intensiver beobachten als sonst. Wir befinden uns nach muslimischer Zeitrechnung im Mond-Monat Ramadan.


Zusammen mit den Juden halten auch die Moslems an einem Mond-Kalender fest, welcher das Jahr in Monate zu 29 oder 30 Tagen aufteilt. Sie entsprechen dem Verlauf des Mondes und beginnen mit der ersten schmalen Sichel des zunehmenden Mondes, haben dann später im Vollmond ihre Mitte und enden im Neumond.

Die Juden passen ihr System, anders als die Moslems, mithilfe eines Schaltmonates ale drei Jahre dem Wechsel der Jahreszeiten an. So liegt bei ihnen der Frühlingsmonat Nisan mit seinem Passahfest am 15. Nisan, also bei Vollmond, meist etwa in unserem April. Derzeit ist in Israel Elul. Wenn der zu Ende ist, zusammen mit dem Ramadan, beginnt bei den Juden Tischri und damit das neue Jahr, Rosch-ha-Schanna, der Kopf (rosch), der Beginn des Jahres (schanna). Dieser erste Tag des Neuen Monates liegt in diesem Jahr auf dem 30. September.

Moslems und Juden feiern in diesem Jahr also beide an diesem 30. September – die einen mit dem Zuckerfest das Ende des Fastens, die anderen das Neue Jahr, das mit zehn „ehrfurchtsvollen Tagen“ (jamim noraim) beginnt und zum Yom Kippur, in diesem Jahr am 9. Oktober, hinleitet.

Den Moslems ist die Anpassung an die Jahreszeiten durch zusätzlich in den Kalender eingefügte Monate im Koran verboten, wenn ich das richtig verstehe. Deshalb wandert der Monat Ramadan jährlich um die elf Tage rückwärts, die das Mondjahr mit seinen 354 Tagen von unserem Sonnenjahr mit seinen 365 Tagen unterscheidet. Der Ramadan wird in acht Jahren entsprechend im Juni liegen und den Moslems das Fasten, zu dem ja auch ein Verzicht auf Trinken gehört, immer schwerer machen – einmal wegen der sommerlichen Hitze und zum anderen wegen der längeren Tage, die den Sonnenuntergang und damit das Ende des Fastens immer weiter nach hinten verschieben.

Aber zurück zum Mond: im Ramadan wird die Nacht nach dem 27. Tag als besondere Nacht gefeiert. Es ist die Nacht El-Quadr, die Nacht der Kraft, der Macht. In meiner alten Übersetzung des Koran* heißt es über diese Nacht

Was lehrt dich wissen, was die Nacht El-Quadr ist?
Die Nacht El-Quadr ist besser als tausend Monde.
Hinabsteigen die Engel und der Geist in ihr
Mit ihres Herrn Erlaubnis zu jeglichem Geheiß.
Frieden ist sie bis zum Aufgang der Morgenröte.
(Sure 97, ab Vers 2)

Im ersten Vers wird das Geheimnis dieser Nacht enthüllt:

Siehe wir haben ihn in der Nacht El-Quadr geoffenbart.

Gemeint ist der Koran. Den habe ich vor einigen Wochen zu lesen begonnen und im Urlaub jetzt bis über die Hälfte durchgearbeitet – siehe meinen Blog dazu. Ich fand viel trockenen Stoff darin, aber solche poetischen Einschlüsse wie der obige haben mich an einigen Stellen doch versöhnt.

Der vom Mondlicht trunkene Eichendorff ist mir bei der Sure 97 eingefallen und seine Lehre, daß der Mensch zur Reinigung und Läuterung immer wieder einmal eine Nacht im Freien verbringen sollte. Vielleicht hätte dem frommen Katholiken Eichendorff das Hinabsteigen der Engel im Licht des Mondes gefallen, kleine silberne Partikel, herabströmend zur Erde. Eine solche Nacht könnte die Erde erneuern, oder nicht? Frieden bis zum Aufgang der Morgenröte…

*von Max Henning, in einer Reclam-Buchausgabe des Koran von 1901

Freitag, 12. September 2008

Am Inn



Scuol / Schweiz

Unser Teil der Schweiz gehört eigentlich als Inntal geographisch zu Österreich, und es hat in grauen Vorzeiten auch nicht an Versuchen der Österreicher gefehlt, den Inn heraufzukommen und ihn bis zu seiner Quelle, weiter oben am Maloja-Paß, unter österreichische Hoheit zu bringen.

So, wie die Dinge jetzt stehen, verbleiben aber auch in Zukunft die ersten etwa 100 km des Verlaufes, den der Inn nimmt, der Schweiz. Von der Quelle bis zum Ort Martina, nicht weit von hier, heißt er „En“ und gibt dem Engadin seinen Namen, danach wird er zum Inn und nach weiteren 100 km dann der Namensgeber für die Olympiastadt Innsbruck. In Deutschland wird er noch später dann ein wenig lieblos unter "ferner liefen" eingeordnet und der Gruppe von Iller-Lech-und-Isar-Inn (fließen rechts zur Donau hin) zugeschlagen.

Das Oberengadin und das Unterengadin teilen sich die ersten 100 Flußkilometer in etwa paritätisch untereinander auf. Die Grenze wird durch die Geographie klar vorgegeben: ab der Stelle, wo der Inn / En sein Bett ins Tal einzugraben beginnt, ist es mit seiner friedlichen oberengadiner Kinderzeit vorbei und er tritt ins jugendbewegte, schäumende Unterengadin ein.


Im Oberengadin ist er in einem hohen und lieblichen Trogtal als langsamer Bach dahergeströmt und hatte unterwegs noch so viel Zeit, daß er wunderschöne Seen bilden konnte. Friedrich Nietzsche hat an einem davon, dem Silser See, gesessen und ein wenig Frieden gesucht, die vegetationslosen Felsenberge hoch über dem Trogtal allerdings immer im Blick. Das Leben ist eine Ausnahme des allgemein herrschenden Todes, so etwa hat er gesagt und hinzugefügt: eine seltene.

Im Unterengadin nimmt der En / Inn auch den grauen Gesteinsschutt in sich auf, der ihm von dort an seine kalkige Farbe gibt. Er behält sie bis zum Eintritt in die Donau bei Passau. Dort muß das Blau der Donau lange kämpfen, bis es über das kalkige Grau des Inn die Oberhand behält. Spätestens in Wien muß sie ja wieder die schöne blaue Donau sein. Von der Wassermenge, welche die beiden Flüsse führen, wäre es an manchen Tagen wohl auch nicht falsch, „Inn“ zu dem Ergebnis der Zusammenflüsse zu sagen. Gut, daß man sich auf Donau geeinigt hat, das ist bei weitem der melodiösere, für Lieder geeignete Name, meine Liebe zum Inn hin oder her.

Donnerstag, 11. September 2008

La vuolp chi dorma



Scuol / Schweiz

Wir befinden uns in dem kleinen Teil der Schweiz, in dem die vierte Landessprache gesprochen wird Rumantsch, wie die Leute hier sagen, Romanisch. Man kann ein wenig davon lernen, wenn man die Sprüche auf dem Wänden der schönen alten Häusern liest, an denen man beim Wandern vorbeikommt.

La vuolp chi dorma ist aus einer Sammlung von Sprichwörtern (Proverbis) entnommen, welche das Nachrichtenblatt Allegra in seiner aktuellen Ausgabe veröffentlicht hat. Der Fuchs, der schläft, soweit kommt man auch ohne Übersetzungshilfe, weiter heißt es dann nu tschüffa giallinas. Erraten? Gallus, der Hahn! Der Fuchs, der schläft, fängt keine Hühner. Tschüffa könnte von captare kommen.

Schön und beherzigenswert auch für alle Gutmenschen: Nu’t fare agnè, perche il luf at magli. Wort für Wort: Nicht dich mache zum Lamm, denn der Wolf frißt dich.

Und für alle, die meinen, man könne Fünfe gerade sein lassen: Minda chavè ha sia sumbriva. Jedes Haar hat seinen Schatten. Jedes Detail will also beachtet sein.

Auch eine Bibel haben wir mittlerweile in Rumantsch:

Al cumanzamaint ha Dieu creà il tschel e la terra.
Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.


Damit kann man schon fast die Inschrift aus der Kirche in S-Charl (Bild oben) entziffern:




Nach meinem Eindruck entsteht Romanisch, wenn man die brachialen sprachlichen Methoden der Alpenbewohner so auf das Lateinische anwendet, wie man es weiter nördlich auf das Deutsche angewendet hat. Viel gerolltes R, viel tsch und dsch, alles hinten im Hals gesprochen, fertig ist die Sprache der Berge.

Als Bewohner der Niederdeutschen Tiefebene macht man seine Witze darüber, übers Schweizerdeutsche wie übers „Rumantsch“ aber man denkt sich doch auch, daß man auf positive Weise ein anderer wäre, spräche man auch so klar und hart wie diese Leute. Natürlicher wäre man, männlicher, wahrer, oder nicht?

Wie auch immer – Ende nächster Woche, auf der A 6 in Richtung Frankfurt, fallen solche Eingebungen wieder von einem ab.

Mittwoch, 10. September 2008

Mein schönster Platz der Welt



Val Mingér / Schweiz

Südlich von Scuol (gesprochen SCHKUU-ol)beginnt ein enges Seitental, das in Richtung Südtirol führt. Es ist etwa zur Hälfte durch eine Straße erschlossen, an der das Dörfchen S-Charl (gesprochen Sch-TSCHARL) liegt, in dem bis um das Jahr 1900 herum Eisenerz und teilweise wohl auch Silber abgebaut wurde.



Ein weiteres Seitental in der Nähe dieses Ortes erinnert mit seinem Namen Val Mingér (Wall MinDSCHÄR), dem „Tal der Minen“, an den Bergbau, der früher hier betrieben wurde. Mit dem Ende des Bergbaus kam zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Einrichtung des Schweizer Nationalparks, dem das Val Mingér zugeschlagen wurde, was dann wohl in kurzer Zeit dazu führte, daß der Föhrenwald alle Spuren menschlicher Arbeit überwucherte.



Man kann das Val Mingér heute nur noch zu Fuß begehen und erreicht nach etwa zwei Stunden Aufstieg ein Hochplateau am Ende des Tales, das für mich zu den schönsten Orten der Welt gehört. Als Teil des Nationalparkes ist es seit etwa 100 Jahren so belassen, wie es die Natur will. Dies kommt besonders den Gemsen und Hirschen zugute, die ein feines Gespür dafür entwickelt haben, dass sie hier vor den Jägern geschützt sind. Mir erzählte ein Schweizer einmal, daß die klugen Hirsche dieses Gebiet genau an dem Tag verlassen, wo in den Tälern die Schonzeit beginnt. Später kehren sie in den Nationalpark zurück.



Vom Aussichtspunkt in der Mitte des Hochplateaus hat man die bewaldete Talsohle und die auf der Gegenseite zum Gipfel des Piz Mingér aufsteigenden Hänge und Geröllhalden wie auf einer Bühne im Blick und kann jederzeit die dort grasenden Gemsen und Hirsche mit dem Fernrohr beobachten. Nach hinten steigen weitere Geröllhalden zu einer Kette von gezackten kleinen Gipfeln auf, die das Tal wie ein Amphitheater umschließen. Murmeltiere pfeifen, wenn man heftig atmend die letzten Schritte zum Aussichtspunkt erklimmt, der Bergwind kühlt gelinde den Schweiß. Es ist eine perfekte schöne und dabei wilde Landschaft.



Wenn man auf den Weg zurück sieht, den man über die Talsohle genommen hat, dann steht hoch über S-Charl der wunderbar ebenmäßige Gipfel des Piz Madlain (halbrechts im Bild). Auf dem Rückweg, hat man diesen perfekten Berg beständig vor Augen und bittet die Hl. Maria Magdalena, es möge bitte nicht das letzte Mal sein, dass man ihren Berg im leuchtenden Abendschein ansehen darf.

Beim Aufstieg trafen wir einen jungen Geographen, einen Mitarbeiter der Parkverwaltung. Während wir miteinander sprachen, tauchten hoch am blauen Himmel über uns zwei große Raubvögel auf, die der junge Mann sogleich als Bartgeier identifizierte, was ihn in ein freudiges Entzücken versetzte. Die Geier wurden vor etwa 20 Jahren im Nationalpark neu ausgewildert und sind sozusagen die Stars unter den wilden Tieren hier. Leider war mit meinem schwachen Fernrohr nicht hundertprozentig auszumachen, ob es sich nicht doch um Steinadler handelte, auch sie seltene Exemplare in dieser Gegend, wenn auch nicht so selten wie die Geier. Einer der beiden Vögel nutzte die Thermik des warmen Tages und kreiste höher und höher, bis er nur noch als winziger Punkt am blauen Firmament zu erkennen war.

Mit dem Herbst beginnt die Hirschbrunft, und die Platzhirsche des Reviers waren heute entsprechend eifrig bei der Werbung, was man gut hören kann aber selten zu sehen bekommt. Auf unserem Rückweg röhrte es aus etwa zehn verschiedenen Richtungen aus den dichten Wäldern. Wenn man bedenkt, dass die umworbenen Hirschkühe jeweils nur für ganz kurze Zeit paarungsbereit sind und die Hirsche mit ihren eigenartigen Tönen, die oft eher melancholisch als herrschaftlich klingen, offenbar signalisieren: "wenn es so weit ist - ich bin in der Nähe!", dann können sie einem fast Leid tun. Sie müssen in dieser Zeit ständig in Bewegung sein, manchmal wohl auch mit Nebenbuhlern kämpfen, verlieren viele Pfunde ihres Körperfettes und gehen deshalb oft gefährlich geschwächt in den Winter.


Von Mitleid ergriffen versuchte ich auf dem Rückweg (vergeblich), meiner Frau etwas von der grundsätzlichen sexuellen Not der Männer zu erzählen, die im Röhren der Hirsche ihren letztgültigen Ausdruck findet. Sie lehnt solche Theorien kategorisch ab und hat gute Gründe dafür.

Gemeinsam freuten wir uns aber an dem Gedanken, unser ehemaliger Pastor könnte durch das Blöken der Hirsche zu der folgender Predigt inspiriert werden: "Lassen wir uns nicht durch die sauberen Dörfer und Städte in den Schweizer Tälern in die Irre führen! In der Höhe, da wo es keine Bäume und keine Sträucher mehr gibt, und wo die Hochsteppe beginnt, herrscht eine große sexuelle Noth!“

Montag, 8. September 2008

Nachtmusik



Sent / Schweiz

Den Inn abwärts liegt das nächste Dorf Sent 1.500 m hoch auf einer Art grünem Balkon über dem Tal und reckt den filigranen Turm einer Kirche aus dem späten Mittelalter (1498) weithin sichtbar in die Höhe. In dieser alten Kirche spielte am Sonntagabend ein Klaviertrio Stücke von Mozart und Schubert, das war der würdige Abschluß eines schönen ersten Urlaubstages.


(Das Unterengadin von Tarasp aus gesehen, mit Scuol in der Mitte und Sent oben im Hintergrund)

Meine Vorliebe für improvisierte Jazz- und Gospelmusik erleichtert mir manchmal den Zugang zu klassischen Stücken, manchmal erschwert sie ihn auch. Mozart gefällt mir mit seinen genialen Voicings, das sind im Jazz Klangeffekte, die durch das Verteilen eines Akkordes auf mehrere Oktaven entstehen. An einer Stelle spielten Geige und Cello wunderbar warm eine Melodie unisono, über zwei Oktaven verteilt, das Klavier füllte vollkommen ebenmäßig die Mitte aus. Schubert dagegen wirkt mit seinen drängenden Emotionen ein wenig uncool, um es einmal so zu sagen. Warum muß ein Mensch, dem so schöne Melodien einfallen, immer den jammervollen Beethoven in seinem Leid zu übertreffen versuchen?

Beim Zusammenspiel der Solisten fehlt mir manchmal der feine Groove, den der eine Spieler vorgibt und den der zweite dann aufnimmt. Jeder Mensch gibt ja einer Melodie einen bestimmten Sinn mit auf den Weg, wenn er sie singt oder spielt, und der zweite Musiker ist aufgefordert, den Sinn zu verstehen und ihn in seine eigene Musik aufzunehmen. Das gelingt bei einfachster Volksmusik oft auf natürliche Weise, bei der Klassik wird es nach meinem Eindruck nicht ausreichend gelehrt, es soll sich wohl bei perfektem Spiel von selbst ergeben. Tut es aber nicht immer. Die polnische Pianistin spielte sehr dezidiert ihren eigenen Groove und bewegte, um dies auch sichtbar zu unterstreichen, ihre Arme so, als ob jeder einzelne Ton aus einem Akt von Kraft und Willen neu geboren werden müßte. Dabei lief die Musik von ganz alleine so schön! Auch die Unart, die Finger immer so von den Tasten zu ziehen, als ob Klebstoff darauf wäre, fand ich bei ihr störend.

Schubert hatte eine schöne melodische Stelle, an der ich daran gedacht haben, daß man sich im Himmel eines Tages, recht bald vielleicht, daran erinnern und sagen wird: auch auf der Erde gab es Momente, in denen man sich nicht nach dem Himmel sehnen mußte, weil er kaum schöner sein konnte.

Die Kirche war reich mit Arvenholz ausgekleidet, auch die Bänke waren aus massiven Brettern dieses Nadelbaumholzes gefertigt, das mit seinen vielen Astlöchern immer ein wenig an IKEA erinnert, nur daß hier für die Fertigung und vor allem für die Verzierung mehr Zeit aufgewendet wurde. Der Fön des Vortages hatte mit seiner feuchten warmen Luft das Inventar offenbar kräftig zum Atmen gebracht, denn es duftete in der Kirche zauberhaft nach Harz und feinem Holz.

Vielleicht hatte auch der Pastor ein wenig mit ätherischen Essenzen nachgeholfen. Er versteht seine Kirche als einen spirituellen Ort, in dem sich das Göttliche aus den äußeren Anreizen wie von selbst ergibt.

Aus einem in der Kirche ausliegenden Blatt:

Gehen Sie jetzt langsam auf den Chor zu. Nähern Sie sich der göttlichen Sphäre. Auf welcher Höhe pendelt sich Ihr Blick ein? Wie verändert sich Ihr Befinden auf dem Weg? Hat sich ihr Atem verändert?

Eine innere Stimme sagt mir bei solchen Gedanken immer ein Gedicht vor, das mit den Worten beginnt, Kafka sprach zu Rudolf Steiner: von euch Jungs versteht mich keiner.

Sonntag, 7. September 2008

Föhn



Scuol/CH im Unterengadin

Gestern nachmittag sind wir bei Föhn im Unterengadin angekommen. Daß die unerwartet warme und feuchte Luft, die uns am Ende des neuen Vereina-Tunnels, der aus einem Tal vor Davos ins Unterengadin führt (20 Minuten Fahrt, das Auto wird auf eine Eisenbahn verladen), durch Föhn hervorgerufen war, hat uns der Kellner des Restaurant Filli abends erzählt. Wir wollten dort auf der Terrasse spät noch ein Bier trinken, mußten aber lange auf den Kellner warten, weil der – wie er uns entschuldigend sagte – nach den vielen kalten Abenden der letzten Wochen niemanden mehr auf der Terrasse erwartete. Ich hatte noch nie in meinem Leben Föhn erlebt und fand es eher angenehm, wenn auch insgesamt etwas schwül.

Aus der Schule habe ich Schaubilder vom Föhn in München in Erinnerung, wo Luftmassen von hoch im Gebirge herunter ins Flachland strömen, wie von einem Gebläse angetrieben. Leider weiß nicht mehr, nach welchen Gesetzen das abläuft. Ist es warme Luft („warme Luft steigt nach oben“), die sich oben in den Bergen verirrt hat, und wieder herunter muß? Warum bleibt sie nicht oben? Normalerweise würde ich meinen Lesern an dieser Stelle mit einer bei Wikipedia erfragten klugen Auskunft dienen, habe aber heute nur einen teuren UMTS-Zugang ins Internet, mit dem hausinternen W-Lan komme ich noch nicht richtig klar. Nachträglich. habe einige Tage später Wikipedia nachgelesen, aber zunächst nur so viel verstanden, daß es der Föhn tatsächlich ein recht komplexes Phänomen ist.



Untergekommen sind wir in einem Appartement mit Blick auf die Dreiergruppe St. Jon (2.442 m), Lischana (3.105 m) und Ajüz (2.778 m), auf dem Foto von rechts nach links. Auf dem Gipfel des Piz Lischana ist Matthias als Grundschulkind gewesen, das ist vermutlich eine Art Familienrekord*. Er ging mit einer bergerfahrenen Schweizer Familie hinauf, die ebenso wie wir auf der Lischana-Hütte übernachtet hatte. Die anderen haben damals aus sicherem Abstand in etwa 3.000 m Höhe auf Matthias gewartet.

Jetzt, wo ich den Berg wiedersehe, erschaudere ich bei dem Gedanken.

Christiane und ich wollen uns, von mancherlei körperlichen Beschwerden eingeschränkt, damit zufrieden geben, wenn es in diesem Jahr bis 2.000 m reicht. Wir werden ja schließlich auch älter.


* was die zu Fuß erreichte Höhe betrifft, Christina war jüngst in den Anden auf 5.000 m, aber mit dem Auto.