Scuol / Schweiz
Der junge Mitarbeiter des Nationalparks, dem wir im Val Mingèr begegnen, hat das typische freundliche Schweizergesicht, das ich hier oft gesehen habe, und von dem ich nach langem Nachdenken über sein Wesen sagen möchte: es ist ein Heilandsgesicht.
Es gibt diese besonderen Gesichter hier, Gesichter die Ruhe und Frieden ausstrahlen, Gesichter bei denen man zu Hause sein möchte, von denen man sicher ist, daß hinter ihren Stirnen und ihren Augen keine bösen Pläne vorhanden sind.
Ob es an dem langen Frieden liegt, den dieses Volk genossen hat, oder an der langsamen Sprache der Bergvölker, die besser für das Zuhören als für das Reden geeignet ist, ob sich hier in der Höhe ein Bewußtsein gebildet hat, daß man in den Flachländern ringsum eine sündige Welt vermuten muß, und daß man deren Schuld nur mit unendlicher Geduld begegnen kann – wie auch immer: die Schweiz hat den Typus des langmütigen Menschen hervorgebracht, der ohne große Anstrengung auch Züge des Erlösers annehmen kann.
Es ist wohl kein Zufall, daß Jim Caviezel, der Jesus-Darsteller in dem berühmten Passionsfilm von Mel Gibson, Schweizer Abstammung ist, romanischer sogar, der Großvater stammt aus Graubünden, der Name Caviezel kommt hier im Engadin häufig vor.
Kann man sie zum Zorn reizen, diese Lämmer hier in diesem Land? Kann man herausfinden, was sie mit der ganzen angestauten Wut machen, die sie über die niederdeutschen Meiers und Müllers haben müssen, die hier Jahr für Jahr wie die Heuschrecken eingefallen kommen, aus der Tiefebene herauf, und die mit ihrer Ungeduld und ihrer schnellen Zunge den Frieden der Berge stören?
Von den Österreichern weiß man, daß sie das Ventil haben, uns „Piefkes“ zu nennen und sich im Vergleich mit uns für etwas Besseres zu halten, weil man sich still im Glanz alter Wiener k. u k. Zeiten sonnen kann, einem Glanz, an den Berlin nie herangekommen ist.
Haben die Schweizer vielleicht einen vergleichbaren Weg, ihren Mißmut abzuführen? Ich vermute: nein. Aber ich meine, ein Mittel erkannt zu haben, mit dessen Hilfe sie doch alle am Ende noch auf ganz eigene Weise den Spieß herumdrehen. Sie schreiben – eine Rechnung.
Die Preise sind hier alle so gesalzen, daß man wohl am besten vorsorglich ein frommes Gesicht macht, wenn man sie dem Zahlenden mitteilt.
Solche wirtschaftliche Vernunft muß nicht die Kehrseite vom Heiland-Sein bedeuten. Im Gegenteil: vielleicht ist das a u c h ein Aspekt der Frömmigkeit, daß eben das Teuerste gerade gut genug ist, um sie in das eigene Leben einbeziehen zu dürfen.
Dienstag, 16. September 2008
Heilandsgesichter
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen