Val Mingér / Schweiz
Südlich von Scuol (gesprochen SCHKUU-ol)beginnt ein enges Seitental, das in Richtung Südtirol führt. Es ist etwa zur Hälfte durch eine Straße erschlossen, an der das Dörfchen S-Charl (gesprochen Sch-TSCHARL) liegt, in dem bis um das Jahr 1900 herum Eisenerz und teilweise wohl auch Silber abgebaut wurde.
Ein weiteres Seitental in der Nähe dieses Ortes erinnert mit seinem Namen Val Mingér (Wall MinDSCHÄR), dem „Tal der Minen“, an den Bergbau, der früher hier betrieben wurde. Mit dem Ende des Bergbaus kam zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Einrichtung des Schweizer Nationalparks, dem das Val Mingér zugeschlagen wurde, was dann wohl in kurzer Zeit dazu führte, daß der Föhrenwald alle Spuren menschlicher Arbeit überwucherte.
Man kann das Val Mingér heute nur noch zu Fuß begehen und erreicht nach etwa zwei Stunden Aufstieg ein Hochplateau am Ende des Tales, das für mich zu den schönsten Orten der Welt gehört. Als Teil des Nationalparkes ist es seit etwa 100 Jahren so belassen, wie es die Natur will. Dies kommt besonders den Gemsen und Hirschen zugute, die ein feines Gespür dafür entwickelt haben, dass sie hier vor den Jägern geschützt sind. Mir erzählte ein Schweizer einmal, daß die klugen Hirsche dieses Gebiet genau an dem Tag verlassen, wo in den Tälern die Schonzeit beginnt. Später kehren sie in den Nationalpark zurück.
Beim Aufstieg trafen wir einen jungen Geographen, einen Mitarbeiter der Parkverwaltung. Während wir miteinander sprachen, tauchten hoch am blauen Himmel über uns zwei große Raubvögel auf, die der junge Mann sogleich als Bartgeier identifizierte, was ihn in ein freudiges Entzücken versetzte. Die Geier wurden vor etwa 20 Jahren im Nationalpark neu ausgewildert und sind sozusagen die Stars unter den wilden Tieren hier. Leider war mit meinem schwachen Fernrohr nicht
Mit dem Herbst beginnt die Hirschbrunft, und die Platzhirsche des Reviers waren heute entsprechend eifrig bei der Werbung, was man gut hören kann aber selten zu sehen bekommt. Auf unserem Rückweg röhrte es aus etwa zehn verschiedenen Richtungen aus den dichten Wäldern. Wenn man bedenkt, dass die umworbenen Hirschkühe jeweils nur für ganz kurze Zeit paarungsbereit sind und die Hirsche mit ihren eigenartigen Tönen, die oft eher melancholisch als herrschaftlich klingen, offenbar signalisieren: "wenn es so weit ist - ich bin in der Nähe!", dann können sie einem fast Leid tun. Sie müssen in dieser Zeit ständig in Bewegung sein, manchmal wohl auch mit Nebenbuhlern kämpfen, verlieren viele Pfunde ihres Körperfettes und gehen deshalb oft gefährlich geschwächt in den Winter.
Gemeinsam freuten wir uns aber an dem Gedanken, unser ehemaliger Pastor könnte durch das Blöken der Hirsche zu der folgender Predigt inspiriert werden: "Lassen wir uns nicht durch die sauberen Dörfer und Städte in den Schweizer Tälern in die Irre führen! In der Höhe, da wo es keine Bäume und keine Sträucher mehr gibt, und wo die Hochsteppe beginnt, herrscht eine große sexuelle Noth!“
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