Mittwoch, 10. September 2008

Mein schönster Platz der Welt



Val Mingér / Schweiz

Südlich von Scuol (gesprochen SCHKUU-ol)beginnt ein enges Seitental, das in Richtung Südtirol führt. Es ist etwa zur Hälfte durch eine Straße erschlossen, an der das Dörfchen S-Charl (gesprochen Sch-TSCHARL) liegt, in dem bis um das Jahr 1900 herum Eisenerz und teilweise wohl auch Silber abgebaut wurde.



Ein weiteres Seitental in der Nähe dieses Ortes erinnert mit seinem Namen Val Mingér (Wall MinDSCHÄR), dem „Tal der Minen“, an den Bergbau, der früher hier betrieben wurde. Mit dem Ende des Bergbaus kam zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Einrichtung des Schweizer Nationalparks, dem das Val Mingér zugeschlagen wurde, was dann wohl in kurzer Zeit dazu führte, daß der Föhrenwald alle Spuren menschlicher Arbeit überwucherte.



Man kann das Val Mingér heute nur noch zu Fuß begehen und erreicht nach etwa zwei Stunden Aufstieg ein Hochplateau am Ende des Tales, das für mich zu den schönsten Orten der Welt gehört. Als Teil des Nationalparkes ist es seit etwa 100 Jahren so belassen, wie es die Natur will. Dies kommt besonders den Gemsen und Hirschen zugute, die ein feines Gespür dafür entwickelt haben, dass sie hier vor den Jägern geschützt sind. Mir erzählte ein Schweizer einmal, daß die klugen Hirsche dieses Gebiet genau an dem Tag verlassen, wo in den Tälern die Schonzeit beginnt. Später kehren sie in den Nationalpark zurück.



Vom Aussichtspunkt in der Mitte des Hochplateaus hat man die bewaldete Talsohle und die auf der Gegenseite zum Gipfel des Piz Mingér aufsteigenden Hänge und Geröllhalden wie auf einer Bühne im Blick und kann jederzeit die dort grasenden Gemsen und Hirsche mit dem Fernrohr beobachten. Nach hinten steigen weitere Geröllhalden zu einer Kette von gezackten kleinen Gipfeln auf, die das Tal wie ein Amphitheater umschließen. Murmeltiere pfeifen, wenn man heftig atmend die letzten Schritte zum Aussichtspunkt erklimmt, der Bergwind kühlt gelinde den Schweiß. Es ist eine perfekte schöne und dabei wilde Landschaft.



Wenn man auf den Weg zurück sieht, den man über die Talsohle genommen hat, dann steht hoch über S-Charl der wunderbar ebenmäßige Gipfel des Piz Madlain (halbrechts im Bild). Auf dem Rückweg, hat man diesen perfekten Berg beständig vor Augen und bittet die Hl. Maria Magdalena, es möge bitte nicht das letzte Mal sein, dass man ihren Berg im leuchtenden Abendschein ansehen darf.

Beim Aufstieg trafen wir einen jungen Geographen, einen Mitarbeiter der Parkverwaltung. Während wir miteinander sprachen, tauchten hoch am blauen Himmel über uns zwei große Raubvögel auf, die der junge Mann sogleich als Bartgeier identifizierte, was ihn in ein freudiges Entzücken versetzte. Die Geier wurden vor etwa 20 Jahren im Nationalpark neu ausgewildert und sind sozusagen die Stars unter den wilden Tieren hier. Leider war mit meinem schwachen Fernrohr nicht hundertprozentig auszumachen, ob es sich nicht doch um Steinadler handelte, auch sie seltene Exemplare in dieser Gegend, wenn auch nicht so selten wie die Geier. Einer der beiden Vögel nutzte die Thermik des warmen Tages und kreiste höher und höher, bis er nur noch als winziger Punkt am blauen Firmament zu erkennen war.

Mit dem Herbst beginnt die Hirschbrunft, und die Platzhirsche des Reviers waren heute entsprechend eifrig bei der Werbung, was man gut hören kann aber selten zu sehen bekommt. Auf unserem Rückweg röhrte es aus etwa zehn verschiedenen Richtungen aus den dichten Wäldern. Wenn man bedenkt, dass die umworbenen Hirschkühe jeweils nur für ganz kurze Zeit paarungsbereit sind und die Hirsche mit ihren eigenartigen Tönen, die oft eher melancholisch als herrschaftlich klingen, offenbar signalisieren: "wenn es so weit ist - ich bin in der Nähe!", dann können sie einem fast Leid tun. Sie müssen in dieser Zeit ständig in Bewegung sein, manchmal wohl auch mit Nebenbuhlern kämpfen, verlieren viele Pfunde ihres Körperfettes und gehen deshalb oft gefährlich geschwächt in den Winter.


Von Mitleid ergriffen versuchte ich auf dem Rückweg (vergeblich), meiner Frau etwas von der grundsätzlichen sexuellen Not der Männer zu erzählen, die im Röhren der Hirsche ihren letztgültigen Ausdruck findet. Sie lehnt solche Theorien kategorisch ab und hat gute Gründe dafür.

Gemeinsam freuten wir uns aber an dem Gedanken, unser ehemaliger Pastor könnte durch das Blöken der Hirsche zu der folgender Predigt inspiriert werden: "Lassen wir uns nicht durch die sauberen Dörfer und Städte in den Schweizer Tälern in die Irre führen! In der Höhe, da wo es keine Bäume und keine Sträucher mehr gibt, und wo die Hochsteppe beginnt, herrscht eine große sexuelle Noth!“

Keine Kommentare: