Kloster Müstair / Schweiz
Auf der östlichen Seite des Ofenpasses gelangt man hinunter in ein Seitental, das in den südtiroler Vinschgau mündet, dem breiten Tal der Etsch, dem Fluß aus der ungeliebten ersten Strophe des Deutschlandliedes von Hofmann von Fallersleben, 1841 auf Helgoland komponiert. Man gelangt die Etsch hinunter nach Meran und Bozen und später nach Verona und bis in die Adria, die Mündung liegt in der Nähe von Venedig.
Das Seitental davor gehört noch ein Stück zur Schweiz, genau: bis zum uralten Kloster Müstair (Fotos aus dem Internet). Dort soll um das Jahr 800 herum König Karl der Große beim Überqueren des nahen Umbrail-Passes durch starkes Unwetter in Not geraten sein und soll danach im Tal dieses Kloster gegründet haben, aus Dankbarkeit.
Die Legende ist nirgendwo historisch zu belegen, aber die Balken der alten Klosterkirche sind vor wenigen Jahren auf ihr Alter untersucht worden und stammen tatsächlich aus der Zeit um 750. Nach und nach hat man in den letzten Jahren den Wert der uralten Bausubstanz, die um das Jahr 1450 gotisch umgestaltet wurde, erkannt, hat die alten, teilweise übermalten Fresken aus der Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger, der „Karolinger-Zeit“, wieder freigelegt, zu ihrem Schutz sogar die Heizung entfernt, so daß die Benediktinerinnen im Winter für ihre regelmäßigen Gebete in eine andere Kapelle ausweichen müssen, und hat sich auf diesem Weg das Unesco-Gütesiegel „Weltkulturerbe“ erworben.
Die uralten Bilder bestätigen dieses Prädikat. Sie führen den Betrachter in einer Zeitreise sozusagen mit dem Aufzug in ungeahnt tiefe Stockwerke. Die rund 800 Jahre zurück bis zum Bau des Kölner Doms (um 1225) sind wenig im Vergleich zu den 1200 Jahren bis nach Müstair hinunter. Hier sind eher die Ikonen der Hagia Sophie (um 500) nahe, das Mittelalter ist im Kirchenraum von Müstair noch Zukunft.
Ob wir etwas von den Menschen, die diese Kirche in Urzeiten einmal ausgemalt haben, wissen? Für mich verbergen sie sich hinter ihren formalisierten Bildern mehr als daß sie sich zeigen.
In der Kirche sangen um Fünf die Benediktinerinnen des Klosters ihre Vesper, unsichtbar für uns, von der Empore hinunter. Der Gesang erklingt hier seit 1200 Jahren täglich, mit wenigen Unterbrechungen wegen Krieg, Feuer und Not. Auch der Gesang verbirgt die Sänger mehr als daß er sie zeigt. Vermutlich muß man erst einmal selbst viele Jahre Tag für Tag die Vesper und die anderen Tagesstationen gesungen haben, um den Sinn zu verstehen.
Man sang in Deutsch, Vaterunser und Avemaria. Die Dialektfärbung war unüberhörbar „gebänädait ist die Frruucht deinäs Laibäs“. Alles auf einem Ton.
Im Nachbarort St. Maria hat eine Handweberei mit öffentlicher Hilfe den Betrieb aufgenommen und bildet vier junge Mädchen zu Weberinnen aus, „Textilgestalter“ im Amtsdeutsch. Man kann ihnen gegen Eintritt bei der Arbeit zusehen und sich von ihnen noch einmal die mechanischen Grundlagen ihrer Arbeit erklären lassen. Viele Jahrhunderte lang war der Preis, den man für die „fruits of the loom“, die Früchte des Webstuhles zu bezahlen bereit war, die soziale Grenzlinie, an der wirtschaftliche Gerechtigkeit prüfbar und oft zerstört wurde. Reichtum und Elend entschieden sich an den Preisen, die man den Webern zu zahlen bereit war.
Das Heraufkommen der Maschinen machte das Handwerk zu einer unbezahlbaren Kunst. 800 m webt die Maschine in der Stunde, sagte uns die Leiterin der Werkstatt, 80 cm der Mensch. Trotzdem bildet man hier aus, die produzierten Designer-Stücke sind sündhaft teuer, finden aber offenbar guten Absatz bei den wohlhabenden Ferienhausbesitzern, die ihre Bauernmöbel aus Arvenholz um passende handgewebte Leinenstoffe ergänzen wollen.
Weberei geschieht immer im rechten Winkel zwischen „Kette“ und „Schuß“. Das Weberschiffchen schießt den Querfaden (Schuß) zwischen die je nach Muster von einer „Litze“ hoch- und niedergehaltenen, auf dem Webstuhl fest aufgespannten Längsfäden (Kette). Die Litze hängt in Rahmen (Schäften), von denen einige Webstühle in St. Maria bis zu 15 aufwiesen.
Die Weberin tritt ein Holzpedal, einer Kirchenorgel ähnlich, und wählt damit den Schaft und seine Litze aus. Wenn der Faden durchgeschossen ist, wird er mit einem Kamm (unter dem breiten Balken im Vorderfund des Fotos) an den bereits fertigen Stoff angedrückt. Nur wenn man den Druck der Hand auf dieses „Webblatt“ immer in der gleichen Weise ausführt, entsteht ein gleichmäßiges Stück Stoff. Jeder Weber sollte deshalb, sagte man uns, möglichst sein Stück Arbeit von Anfang bis Ende allein fertigstellen.
Die Leiterin der Manufaktur war eine junge Frau mit den ebenmäßigen bräunlichen Gesichtszügen, die das Bild der Schweizer „Heidi“ in der ganzen Welt beliebt machen. Ein winziges Nasenpiercing störte nicht, sondern überhöhte den angenehmen Doppeleindruck von äußerer Schönheit und innerer Gutheit, den man in Deutschland nur noch selten findet*.
Ich habe vor Jahren auf einer Hütte meinen damals 12jährigen Sohn Matthias auf eine ähnliche Heidi, die mit uns am Tisch saß, aufmerksam gemacht und ihm empfohlen, bei der Brautwahl auf diesen Typus zu achten. Er wird am 17. September 21 Jahre alt. Mal sehen, was er aus meiner Empfehlung macht.
* Tochter Christinas Gastvater Jim Smith in Florida, sagt es in seinem breiten Südstaaten-Slang so: „Y’now Chrish-chian, some women’re purdy (pretty) – but they ain’t good, an’ summ’a them are good – but they ain’t purdy. We are lucky men, because our’s are purdy and good.“
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