Dienstag, 1. September 2009

Dolomitenmenschen




Giuseppe P. ist vor mehr als einem halben Jahrhundert nach Deutschland ausgewandert und hat dort seine Frau kennengelernt. Die stammt aus dem Dolomitendorf Cibiana und brachte von dort ein entscheidend wichtiges, vom Vater ererbtes Kapital mit in die Ehe: alte Rezepte für italienisches Eis. Zusammen haben die beiden in den Fünfziger Jahren in Schwäbisch Hall einen Eissalon eröffnet, den heute der Sohn weiterführt – mit immer noch denselben Rezepten, nach denen der Großvater in den Dolomiten sein Eis zubereitete.

Giuseppe und seine Frau haben ein Haus in Schwäbisch Hall, ein weiteres in Pieve di Cadore und als drittes ein winziges Bauernhaus oberhalb von Cibiana auf dem Weg hinauf zu Messners Mountain Museum. Wir kommen vor diesem Haus ins Gespräch und werden bald zu einem Glas Prosecco in die gute Stube eingeladen, welche die beiden mit viel Liebe ausgebaut haben. Sie pendeln zwischen ihren drei Häusern hin und her, wobei sie die Sehnsucht nach den Enkeln aber auch der Bedarf an ärztlicher Hilfe immer wieder nach Deutschland treibt. Frau P. hat zwei Schulteroperationen hinter sich. Die letzte, in Belluno, hat nicht den erwünschten Erfolg gebracht, jetzt soll ein Krankenhausaufenthalt in Stuttgart helfen.


Vom Eisrezept verraten sie immerhin soviel, daß man für das Fruchteis die (natürlich eigenhändig eingekauften) Früchte kalt auspresst und nicht durch Erhitzen konzentriert. Man setzt Wasser hinzu, keine Milch, die gibt es nur beim Vanille- und Schokoladeneis und seinen Variationen. Bei diesen letzteren besteht die Kunst darin, das zum Pasteurisieren erhitzte Basisgemisch so schnell wie möglich abzukühlen.

Cibiana ist offenbar ein Hort für das Wissen um die Eisherstellung. Auch Nevio de Zordo, dessen Eissalon ich vom Fenster meines Studentenzimmers in Köln auf der anderen Straßenseite sehen konnte, stammt hier aus dem Dorf, die P.s kennen ihn. Wenn ich länger mit Nevio de Zordo redete, holte er manchmal auch die Silbermedaille hervor, die er 1972 in Sapporo gewonnen hatte – als Steuermann des Viererbobs Italien I.


Klaus C. ist über vierzig Jahre lang „im Sommer und im Winter“ in den Dolomiten in Urlaub gewesen. Er besaß einen Handwerksbetrieb in Goslar am Harz. Als Rentner zog er ganz hierhin und ist mittlerweile sogar mit einer Einheimischen aus Kastelruth verheiratet. Er hat sie im Alpenverein kennengelernt und liebt ihre Küche, wie er sagt.

Aus Dankbarkeit zur neuen Heimat hat er eine Bank gestiftet, die er jetzt in einem Wald oberhalb von Kastelruth aufstellt. Das ist mühselige Arbeit, weil die nächste Straße mehr als 1 km entfernt liegt – tief unterhalb der Bank. Jedes Teil hat Herr C. auf den Schultern herangetragen, auch die schweren Fußteile aus massivem Beton. Heute hat er einen Eimer Mörtel dabei und verlegt einen Naturfußboden aus dicken Steinen vor der Bank.

Er ist ein zufriedener Mensch, der ganz offenbar nicht von der Tristesse eingeholt wurde, die manchen befallen mag, der seinen Urlaubsort zum Dauerwohnsitz gemacht hat. Aber nicht jeder hat das Glück, eine neue Liebe im Alter zu finden, und dazu noch eine, zu der man auch über den Magen ein dauerhaftes Liebesverhältnis begründen kann.

Von der Bank aus blickt man auf die bewaldeten Hügel oberhalb von Kastelruth und dann einen Einschnitt hinunter in das Eisacktal, in dem ganz tief unten, unsichtbar und unhörbar für uns obrige, die Autobahn vom Brenner nach Mailand verläuft. Auf der anderen Seite des Tales erhebt sich das langgestreckte Massiv des Ritten (2.260 m), der zu den Sarntaler Alpen gehört. Mit seinem flachen grünen Gipfelgebiet sieht er vollkommen anders aus als die Berge der Dolomiten, die östlich des Eisacks beginnen. Frank-Walter Steinmeier, der seit vielen Jahren in den Dolomiten Urlaub macht, hat auf diesem Berg 2006 seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Auch der Papst hat hier in der Nähe Urlaub gemacht (2008 in Brixen im Priesterseminar) und Kanzlerin Merkel war 2006 hier, etwas weiter östlich, in Sexten.

Wir rechnen sie alle zu den Dolomitenmenschen und möchten selbst gerne ab sofort mit dazu gehören.



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