Es sind 56
Jahre her, seitdem ich an diesem Ort zum ersten Mal in meinem Leben das Meer
gesehen habe. Heute komme ich zum ersten mal wieder an die Stelle. Meine Eltern machten damals - ebenfalls zum ersten Mal in ihrem Leben - hier Urlaub, und wir
Kinder wurden mitgenommen, was nicht selbstverständlich war und im nächsten
Jahr zunächst wieder abgeschafft wurde. In meiner Erinnerung gibt es das Bild eines freundlichen
Sommerabends mit milder Wärme, ein großes, stilles Meer, an dessen Rand sich nur
ganz kleine Wellen bewegen, ein weiter ebener Strand mit weißem Sand, fast so fein wie Mehl. Leider sehe ich auch die
erste Enttäuschung wieder vor mir, ich sehe eine dünne Wolke Seetang im
Wasser, dicht hinter den kleinen Wellen und fürchte mich, einen Fuß ins Meer zu setzen und den
unangenehmen Modder dabei berühren zu müssen. Mein Vater tadelt meine Empfindlichkeit in Bezug
auf diese natürlichen Verunreinigungen und erzählt etwas von Quallen, die viel
eher zu fürchten seien als dieses bisschen Seetang. Es gibt Eis mit dem eigentümlichen
Namen Langnese, den ich vorher nie gehört habe. Es ist viereckig geschnitten, hat einen Holzstil, der auf der Zunge stumpf wirkt, wenn man das letzte Restchen Eis abgeleckt hat (gerade als ob er hinter das Ende des Genusses noch ein Ausrufezeichen setzen wollte) und ist
in silbernes Stanniol eingewickelt. Zwischen Erdbeer und Vanille kann man wählen.
Auch den Preis weiß ich noch, man kann ihn sich leicht merken: 20 Pfennig.
Ebenfalls leicht zu merken, sind die Preise für einen Brief und für die
Bildzeitung, beides 10 Pfennig. Die Zeitungsverkäufer und ihre Rufe vergißt man
nicht „Di-e BILD-Zei-tung - - ze-hn Pfen-NIG!“
Wir leben ein wenig unbequem, weil wir mit einer großen Anzahl von Leuten (Freunde der Eltern sind mitgekommen) ein kleines Gartenhäuschen teilen müssen, das Einheimische für Feriengäste hergerichtet haben. Aber es gibt dort erstmals in meinem Leben (wirklich? waren wir in Remscheid so arm?) frische Brötchen, die mit Butter und Honig bestrichen werden - wieder Langnese - und den Geschmack des Honigs und der Butter wunderbar tragen, gerade wie ein schlichtes Podest eine schöne Statue trägt. Bis heute liebe ich diese tragende Demut der Brötchen, die wie kein anderes Backwerk den Geschmack der Delikatessen zur Geltung kommen lassen, mit denen man sie belegt.
Und Bernstein! Irgendwer in unserer Reisegesellschaft ist immer mit ernstem Blick zum Boden unterwegs und findet in meiner Erinnerung große braune wie Glas wirkende Perlen, die man zu Ketten und Schmuck verarbeiten kann. Und Sandburgen! Mein Vater baut um unseren Strandkorb einen Ringwall, den er sorgfältig abschrägt und glättet und mit einem Muschelmosaik belegt, welches das Wort „Remscheid“ ergibt. So oder ähnlich spricht es mir die Erinnerung ins Ohr.
Nichts davon
ist wahr! Der Strand, zunächst sehe ich ihn in Travemünde, ist hier weder weiß
noch fein, er ist nicht besser und nicht schlechter wie an allen Küsten der Welt, und dabei mit vielen kleinen Kieselsteinen durchsät, die an der
Wasserlinie in großen Haufen herumliegen und überall das Barfußlaufen erschweren.
Ähnlich ist es auch im Nachbarort Niendorf und dann auch am östlichen Rand des Timmendorfer
Strandes. Erst zur Ortsmitte hin ist der Sand steinfrei, aber er wirkt hier, als ob
ihn die Kurverwaltung mit Lastwagen von weit her angekarrt hat. Sandburgen
gibt es nicht, dafür stehen die Strandkörbe wie die Soldaten viel zu dicht
aneinander, und Bernstein gibt es ebenso wenig wie es ihn am kiesigen Rheinufer bei
Leverkusen-Monheim gibt. Was noch da ist, ist der dünne Streifen Algen, den die
Wellen bis an die Wasserlinie herantragen. Und die Quallen! Heute liegen sie
dicht an dicht am Strand und sehen aus wie kleine Plastikverpackungen, in denen
futuristisches Spielzeug aus Japan eingepackt ist.
Das
Langnese-Eis ist ab 60 Cent zu haben (immerhin!), aber wenn man Milcheis mit
Erbeer- oder Vanillegeschmack haben will, muß man € 1,20 bezahlen. Die Bildzeitung
kostet 70 Cent und ein Brief 55. Nichts erinnert an die Zeit vor 56 Jahren. Der
Strand ist kürzer und steiler als in meiner Erinnerung, und das kann sogar
stimmen, denn die Raumplanung hat ein außergewöhnlich exaktes System von
Uferbefestigungen, kurzen Dünenstreifen und Rad- und Fußwegen geschaffen, hinter denen
sich die fürstlichen Häuser der Reichen und Schönen in schier nicht enden
wollender Reihe präsentieren. In diesem System hat auch der Strand seinen fest
bemessenen, etwas engen Platz, und das freundliche Meer respektiert ihn ganz
selbstverständlich, es kennt ja weder Ebbe noch Flut und bleibt, wo es ist.
Das allerdings war und ist damals wie heute so.
Das allerdings war und ist damals wie heute so.
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