Mittwoch, 29. August 2012

Thomas Manns Kirche


Lübeck, 28. August 2012



Das heute als Museum eingerichtete Buddenbrookhaus in der Lübecker Mengstr. 4 (im Foto das weiße Haus links hinter den Bäumen) war 49 Jahre lang im Besitz der Großeltern von Thomas Mann. Es gehörte Johann Sigmund Mann, der das Haus 1842 kaufte und dessen Witwe 1890 hier starb. Sein Sohn, Thomas Manns Vater und das Vorbild von Thomas Buddenbrook, leitete die Firma Mann seit 1863 aus diesem Haus heraus, wohnte aber in einer Parallelstraße, der Beckergrube. Dort wuchs der 1875 geborene Thomas Mann auf und hielt sich im Buddenbrookhaus also immer nur als Besucher seiner Großmutter auf. Nachdem sie und bald darauf auch ihr Sohn verstarb, wurde das Haus 1891 verkauft. Der übriggebliebene Rest der Familie zog in die Vorstadt und wenige Jahre später nach München.
Ich hatte die Mengstraße aus Fotografien als eine der alten, engen Straßen Lübecks in Erinnerung, was sie in den unteren Bereichen zur Trave hin auch ist. Deshalb wunderte ich mich beim ersten Anblick des Hauses Nr. 4, dass hier im oberen Bereich die Straße breiter wird und nur einseitig bebaut ist. Auf der anderen Seite befindet sich der freie Platz auf der Südseite der Marienkirche, das Buddenbrookhaus steht also an einem Kirchplatz. Nun ist das nahe Gotteshaus keine gewöhnliche Kirche, sie ist so massiv und hoch, dass man sich kaum eine Vorstellung von ihrer Wirkung auf den machen kann, der aus der Mengstr. 4 auf den Kirchplatz heraustritt. Mir fällt als Vergleich nur das Bild ein, das der Kölner Dom für den Bahnreisenden bietet, wenn der den gegenüberliegenden Bahnhof verlässt.
Die Marienkirche ist etwa um die Zeit entstanden, in der auch der Kölner Dom gebaut wurde. Man hat bei ihr die damals noch neuen Prinzipien der Gotik unter Verwendung von rotem Backsteinmauerwerk umgesetzt und eine Musterkirche geschaffen, die im gesamten Baltikum immer wieder zum Vorbild für weitere Bauten der Backsteingotik wurde. Der Innenraum hat eine atemberaubende Höhe (Weltrekord für Backstein) und wirkt auch hier ähnlich wie der Dom in Köln. Die Marienkirche wurde – ebenso wie die im Krieg zerstörten Kölner Kirchen der Romanik – nach den Zerstörungen des Krieges sorgsam erneuert und dabei von allen früheren Übermalungen befreit. Der Innenraum erstrahlt heute in den schlichten hellen Tönen, die den ursprünglichen Bau beherrschten.
Beim Blick vom Buddenbrookhaus auf die Marienkirche fragt man sich, warum dieses mächtige Steingebirge unmittelbar vor der Haustür von Großmutter Mann in den Schilderungen ihres Enkels eine so untergeordnete Rolle spielt. Und mehr noch: warum achtet ein im Schatten dieser Kirche aufgewachsener Mensch den Glauben so gering, den diese Kirche so groß verkörpert? Hat die Kirche keinen Eindruck auf ihn gemacht?

Ich fand heute im Haus Mengstr. 4 eine Spur, die vielleicht mehr über die allgemeine Wirkung der Kirche auf Menschen in ihrem Umkreis besagt. Im Treppenhaus zur ersten Etage hin, hängt eine Tafel (Foto), die an die Gründung der Lübecker Freimaurerloge „Zur Weltkugel“ in diesem Haus im Jahre 1779 erinnert. Damals war es im Besitz der Familie Croll, welche es etwa 20 Jahre zuvor erworben, umgebaut und mit dem heute noch vorhandenen Giebelspruch „Dominus Providebit 1758“ versehen hatte. Die Crolls behielten das Haus, bis Thomas Manns Großvater es wie gesagt 1842 kaufte. In die Zeit der Crolls fällt das erste Treffen der Freimaurer in diesem Haus.
 
Warum gründet man eine Freimaurerloge, also in gewisser Weise eine Konkurrenz zur Kirche, in Räumen, die auf eine so gewaltige Kirche blicken? Und warum tritt ein literarisches Genie wie Thomas Mann auf den Platz am Monumentalbau und erzählt danach von allen möglichen Lübecker Dingen, nur nicht von dem so gigantisch repräsentierten Glauben, der dort in der Kirche herrschte?

Meine Antwort ist: die Größe der Kirche hat die Freigeister von 1779 und danach nicht abgeschreckt, sie hat sie im Gegenteil ermutigt. Ein Glaube, der sich auf solche gewaltigen Bauwerke stützen konnte, vertrug es, dass man unter seinen Fittichen auch einmal etwas Anderes dachte, dass man neue Lebensentwürfe wagte, neue Wege ging.
Nach meinem ganz allgemeinen Eindruck hat die Kirche zu allen Zeiten gerne das halblaute Versprechen gegeben, dass ihre Mitglieder frei seien, auch einmal auf von der Kirche unabhängigen Wegen zu gehen. Sie, die Kirche, würde schon dafür sorgen, dass sich alle im Himmel wiederträfen, man könne ja an ihren Bauten ablesen, dass sie etwas vom Himmel und den Wegen dorthin verstünde. 
Mein kleines freikirchliches Verständnis sträubt sich mit Haut und Haaren gegen eine solche Vorstellung. Aber die Freimaurer der Mengstraße und die freigeistigen Konsuln und Senatoren der Familie Mann-Buddenbrook haben nicht freikirchlich gedacht.
 
Zwei Zimmer in der ersten Etage sind im Stil der Buddenbrooks-Jahre hergerichtet, der Speiseraum und das „Landschaftszimmer“. Im Speiseraum dominieren neoklassische Säulenreliefs und vereinzelte griechische Götter auf blauem Grund, im Landschaftszimmer sind idyllische Großbilder auf den Putz gemalt, wie man sie ähnlich auch in einer heutigen Pizzeria vorfindet.

Man fragt sich, ob man gerne in der Zeit gelebt hätte, in der es hier Gastmähler und gesellschaftliche Großereignisse gab. Vermutlich wird man es verneinen – aber Thomas Manns Geschichten aus dieser untergegangenen Zeit lässt man sich trotzdem gerne erzählen. 

In der Mengstr. 36, ein paar Meter die Straße herunter Richtung Trave, verkauft der Weinhandel Carl Tesdorpf den Lübecker Rotspohn für schlankerhand € 11,50 die Flasche. Wir erstehen ein Exemplar und erfahren, dass einer der Tesdorpfs 1891 nach dem Tode des Senators Mann Vormund seines Sohns Thomas wurde. Der hat ihn nicht gemocht und ihm unter dem Namen „Kistenmakers“ in den Buddenbrooks ein schlechtes Denkmal gesetzt.

Keine Kommentare: