Mittwoch, 16. November 2016

Reise ins Heilige Land (II): Glaube und Unglaube am See Genezareth


In dem Moment, als unser kleiner Mietwagen die Straße am Seeufer verlässt und in die Bergstraße nach Obergaliläa einbiegt, denke ich daran, dass  Nureddin und ich den See möglicherweise zum letzten Mal in unserem Leben sehen. Nureddin ist vornehmlich in Israel, um in Jerusalem zu beten. Wenn er je wiederkommen wird, dann nur, um Jerusalem noch einmal zu sehen. Ich selbst bin von der nervösen Stimmung meiner langen Vorbereitungszeit noch ganz durchdrungen und trage den Vorsatz in mir, den Rest meines nun bald 70jährigen Lebens nur noch kurze und einfache Reisen zu machen.


Aber dann denke ich, wenn wir Jesus eines Tages sehen werden - Nureddin und ich hoffentlich gemeinsam - dann wird dieser See, der gerade aus unserem Blick verschwindet, sicherlich ein Gesprächsthema sein. Ob Jesus wirklich über sein Wasser gegangen ist? Das werde ich ihn schüchtern fragen und ihm das Geständnis machen, dass ich immer ein wenig liberal war und mit der Geschichte seiner Wasserwandlung meine Probleme hatte. Vielleicht wird er mir lächelnd sagen, dass er noch das Gefühl unter den Füßen beschreiben kann, welches er damals hatte, als er auf dem Wasser ging.

Nureddin wird dann ebenfalls etwas zu Fragen haben: ob Jesus tatsächlich seinen Weg bis ganz ans Ende, bis ans Kreuz ging. Das glauben Muslime ja nicht, sie sagen, er sei am Kreuz durch Judas ersetzt worden, ihm sei der grausame Tod erspart geblieben. Vielleicht wird Jesus auch hier mit einem Lächeln antworten und sagen: Nureddin, sieh dir die Narben in meinen Händen an. Es war alles so, wie es die vier Evangelisten aufgeschrieben haben.

Mir ist bewusst, dass solche Gedanken die Glaubensprobleme unseres Lebens in einer viel zu spielerischen Weise zu lösen versuchen. Das hilft gegen die wahren Zweifel nicht an. Mir gefällt aber der Gedanke, dass sich der Unglaube, der sich (wie meiner) rein innerhalb einer Religionsgemeinschaft bewegt, mit dem Unglauben verwandt ist, der (wie Nureddins) die  Religionsgemeinschaften trennt. Der Unglaube der Muslime ist nur graduell anders als mein eigener.

Nureddin hat die Stätten des Jesus-Glaubens mit großer Freude und großem Interesse besucht. Das galt für die Kirche auf dem Berg der Seligpreisen wie für Kapernaum und Tabgha. Später galt es auch für die Geburtskirche und die Grabeskirche und die Via Dolorosa, die Nureddin ganz bewusst gehen wollte und dann auch mit mir gegangen ist. Als Moslem hat er ein starkes  Gefühl für die Kraft, die bestimmten Orten innewohnt. Ich halte es da mehr mit der ortlosen Ausrichtung des Glaubens, die Jesus in der Nähe von Nablus verkündet hat, als er der Frau am Jakobsbrunnen sagte, es käme jetzt die Zeit, wo die Menschen Gott "im Geist und in der Wahrheit anbeten" würden. Da braucht es keinen Ort mehr, um zu beten oder zu meditieren.

Was kann einem modernen Menschen helfen, wieder zum Glauben zu finden? Ich denke: wenn es nicht die Inspiration der Orte ist, an denen Religion entstanden ist, dann zumindest das Gefühl, dass hier auf jeden Fall einmal ein großer Funke zu sehen war, ein Licht, das die Welt für eine kurze Zeit hell erleuchtet hat. Es ist wie das Loch, das eine Explosion gerissen hat – man sieht die Explosion nicht mehr, aber das Loch gibt beredtes Zeugnis von ihrer Wirkung.

So ist es mit dem Leben Jesu gewesen. Er hat sozusagen mit einem spirituellen Big Bang eine Kettenreaktion ausgelöst, welche die Menschen tief in ihrem Inneren getroffen und verändert hat.

Der englische Autor Malcolm Muggeridge, der über viele intellektuelle Umwege am Ende seines Lebens zum christlichen Glauben durchgedrungen ist, hat den See Genezareth geliebt. In einem seiner Bücher ist er zu sehen, wie er mit seinen weißen Haaren in einem Fischerboot sitzt und zusammen mit anderen Fischern über den See fährt.

Er schreibt davon, dass er in diesem Gebiet eine besondere Identifikation mit Jesus spürt. Er sieht dieselben Berge, die Jesus sah, spürt denselben Wind, sieht die Sonne genauso auf- und untergehen, wie Jesus sie ebenfalls sah. Und Muggeridge schreibt von einer "außerordentlichen Erleuchtung, die in die eigene Existenz hinein fließt."

Er fragt, was das ist, und antwortet vorsichtig:

Call it faith, which swallows up all the little intricacies of doubt and factual fidgeting. Call it being reborn, a new creature arising out of the dust and grubbiness of worldly living, like a butterfly out of its chrysalisis. Whatever it may be called, it came to pass in Galilee. A new dimension was added to our mortal existence; a new freedom, not for a tiny elite, not based on institutions or propositions, but burgeoning in each human heart and needing only to be allowed to grow.

Nenne es Glauben, der all die kleinen Verwirrungen des Hin und Her im Faktischen in sich aufnimmt, nenne es wiedergeboren zu werden, eine neue Kreatur, die aus dem Staub und Schmutz des weltlichen Lebens heraus ersteht, wie ein Schmetterling aus seiner Larve. Was auch immer es genannt werden mag, es ereignete sich in Galiläa. Eine neue Dimension wurde zu unserer sterblichen Existenz hinzugefügt; eine neue Freiheit, nicht für eine kleine Elite, nicht auf Institutionen oder Lehrsätzen gegründet, aber in jedem menschlichen Herzen aufsprießend und nur danach fragend, dass man sie wachsen lässt.

It came to pass in Galilee. In Galiläa ist es geschehen.

1 Kommentar:

Peter Oberschelp hat gesagt…

Da braucht es keinen Ort mehr, um zu beten oder zu meditieren: Jesus hatte gut reden, er hatte die heiligen Stätten ja stets vor Augen. Im Ernst, mir ist es seinerzeit wie Nureddin ergangen.