Dienstag, 22. Dezember 2009

Das Museum der Unschuld






Meinen frommen muslimischen Freunden wird der neue Roman von Orhan Pamuk nicht sofort gefallen. Zuviel Rakı-Schnaps wird darin getrunken, zuwenig wahre Unschuld gibt es, was die Zeit von Braut und Bräutigam vor der Ehe betrifft. Die westlich orientierte Istanbuler Gesellschaft von 1975, dem Jahr, in dem der Roman beginnt, lebt ein freies Leben und wundert sich über die Kopftuch tragenden Frauen aus der türkischen Provinz in ähnlicher Weise wie es die Berliner heute tun. Die Freude an einem nach den Vorschriften des Korans gelebten Leben ist vordergründig nirgends im Buch zu finden.

Und trotzdem empfehle ich Nureddin und Hasan und Fatih und den anderen gläubigen Männern, das Buch zu lesen. Eine seiner Hauptfiguren ist die Stadt Istanbul, und das Leben dieser Stadt und die Veränderungen, die besonders die frommen Einwanderer vom Land herbeiführen, sind als Bühnenbild ein wunderbar lebendiger Hintergrund des Buches. Manchmal könnte es sogar eine heimliche Liebeserklärung an das neue, nicht mehr von den kemalistischen Eliten regierte Istanbul sein, das sich in der Zeit heranbildet, in der das Buch spielt. Der heutige Premier Erdogan, etwa gleich alt wie Pamuk, baut in den 70er Jahren seine Karriere in Istanbul auf und wird dann mit nur 40 Jahren überraschend Oberbürgermeister dieser Stadt, mit einer Kopftuch tragenden Frau an seiner Seite.

Von Erdogan wird nichts erzählt, aber daß am Ende die Unschuld ein Museum erhält, nicht die Freizügigkeit, setzt ein deutliches Zeichen. Die Unschuld wird in gewisser Weise im Verlauf der Geschichte zurückgewonnen, nachdem sich zu Beginn die Hauptfigur, Kemal Basmacı, in eine leidenschaftliche und sittenlose Dreiecksbeziehung zu der vornehmen Sibel und der schönen Füsun verirrt.

Das Buch bewegt sich entlang der zwei langen Spannungsbögen, die Pamuk sauber anhand der beiden Liebesverhältnisse aufbaut. Der zweite Bogen löst sich erst ganz spät auf, genau: auf Seite 519 von insgesamt 565 Seiten. Der Leser wird auf angenehme Weise in suspense gehalten und begleitet die allesamt lebensvollen und durchaus sympathischen Hauptfiguren mit Anteilnahme und Verständnis.

Ich möchte potentiellen Leser nicht vorab verraten, wie die Geschichten mit Sibel und Füsun schließlich ausgehen, will aber doch soviel sagen, daß Kemal einen Prozeß durchmacht, der ihn am Ende zwar nicht im weißen Kleid der Unschuld dastehen läßt, es aber doch möglich macht, daß er sein Museum der Unschuld gründen kann. Der Roman ist als Führung durch dieses Museum angelegt und unterbricht sich an vielen Stellen, etwa um zu sagen: in dieser Vitrine sehen Sie die Schuhe, die Füsun trug, als sie zu der Feier ging, von der ich gerade berichte.

Einer von Kemals reichen Freunden, der seine Jugend in der Gesellschaft leichter Mädchen verbracht hat, verlobt sich mit einer Studentin, die ebenfalls während ihres Studiums in Frankreich den dortigen Sitten entsprechend freizügig gelebt hat. Die beiden leben erstaunlicherweise mehrere Jahre wie ein traditionelles Verlobungspaar zusammen und schlafen erst nach der Hochzeit miteinander. Man erfährt die Gründe für einen solchen Sinneswandel nicht, aber man spürt, daß es eine unterschwellige Bewegung in der Gesellschaft gibt, hin zu den Werten der rätselhaften Kopftuchleute vom Lande. Das betrifft allerdings nicht den Konsum von Rakı, der wird bis zum Ende des Buches unverändert hochgehalten.

Die Stadt Istanbul ist dabei mehr als nur ein Bühnenbild. Sie wird im Laufe des Buches mehr und mehr zur vierten Hauptperson, jedenfalls in meiner Sicht. Die mag davon beeinflußt sein, daß ich vier Jahre vor dem Beginn der Handlung, also 1971, nur etwa 500 m von der Valikonaği Straße, in der wesentliche Teile des Buches spielen (und in der Orhan Pamuk aufgewachsen ist) entfernt gelebt habe. Ich war für zwei Monate in einem Studentenheim in der nahen Kodaman Straße untergebracht und bin morgens auf dem Weg zur Arbeit an Pamuks Haus und an dem fiktiven Ort des Appartements von Kemal Basmacı vorbeigefahren. Ich kann die vielen Fahrten durch die Stadt, die im Buch beschrieben werden, weitestgehend ohne Zuhilfenahme eines Stadtplans verfolgen, kann mir die Restaurants am Bosporus in Erinnerung rufen und weiß, welche Strömung die Romanfiguren erwartet, wenn sie bei Tarabya im Bosporus schwimmen gehen.

Es ist eine lebendige, liebenswürdige Stadt, von der es am Ende heißt, die Liebesgeschichte von Kemal, Sibel und Füsun solle über sich selbst hinausweisen und aufzeigen, daß es nicht nur um die Geschichte von Verliebten geht, sondern um die Geschichte einer ganzen Welt, nämlich die Geschichte von Istanbul. Es lohnt sich, in diese Welt einzutreten.








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