Donnerstag, 10. Dezember 2009

Der schutzlose Islam


Mein Freund Nureddin tut mir manchmal Türen auf, hinter denen ich ein Stück türkische Wirklichkeit ganz aus der Nähe sehen darf. An manchen Tagen habe ich dann das Gefühl, der einzige Deutsche zu sein, dem diese Wirklichkeit gezeigt wird. Aber das ist natürlich eine Illusion. Allerdings war ich vor ein paar Tagen immerhin der einzige sozusagen eingeborene Deutsche in einer Runde von vielleicht etwa 150 deutschen Türken, die zu einem Konzert zusammengekommen waren.

Und ich habe dort etwas Neues gesehen. Man kann es den schutzlosen Islam nennen - im Gegensatz zum kämpferischen "politischen Islam", den die Schweizer in diesen Tagen mit ihrem Minarettverbot ja weltweit zum Thema gemacht haben.

Der Abend begann mit einem 15 Minuten langen Video von einer Reise, die eine Gruppe von etwa zehn deutschen Türken unternommen hatte. Sie waren alle Mitglieder des Vereins, der das Konzert veranstaltete, und waren anläßlich des islamischen Opferfestes eine Woche zuvor in Kenia gewesen. Die Männer hatten dort persönlich dafür gesorgt, daß in den Armenvierteln von Mombasa eine Gabe verteilt wurde, die traditionell am Tag des Opferfestes der eigenen Familie, den Nachbarn , aber zu wenigstens einem Drittel auch den Armen und Bedürftigen zukommt: das Fleisch des geopferten Tieres.

Die Ähnlichkeit dieser frommen Moslems mit vergleichbar wohltätigen Christen hat mich überrascht. Ich habe ähnliche Reisegesellschaften auch in den evangelischen Freikirchen gesehen, die meine geistliche Heimat sind, Männerrunden etwa, die einen Lastwagen voll Winterkleidung in die hintersten Teile von Rumänien brachten. So wie sie schilderten auch die deutsch-türkischen Reiseteilnehmer, die in Kenia gewesen waren, nach dem Film in einfachen Worten das Elend, das sie gesehen hatten, erzählten aber auch von der Freude, die auf einen fröhlichen Geber zurückfällt.

Mein Eindruck war, daß diese Männer mit einigen kleinen äußerlichen Änderungen problemlos auch in meiner Freikirche vorne stehen könnten. Auch das Video wäre bei uns ganz ähnlich zusammengeschnitten worden - eine reiselustige Runde, einer davon der Spaßmacher, die mit auf angenehme Weise deutsch wirkendem Erkundungs- und Tatendrang ein für sie neues Land besuchte und offensichtlich bemüht war, in den armen Leuten des Gastlandes keine Objekte zu sehen, denen man die eigene Überlegenheit zeigen konnte , sondern menschliche Schwestern und Brüder.
Es gab Probleme zu überwinden, Pannen zu überbrücken, es war Improvisationskunst gefragt, es gab dabei offenbar keinen schützend im Hintergrund bereit stehenden internationalen Islam, aber am Ende war die Reise ein Erfolg.

Am Rande wurde mir gesagt, daß die Verteilung des Fleisches, bei der teilweise eine örtliche, von türkischen Lehrern betriebene Schule behilflich war, nicht nach religiösen Präferenzen geschah. Das Fleisch ging an Menschen jeden Glaubens, nicht nur an Moslems, das Ganze erschien überhaupt von jeglichem missionarischen Aspekt frei zu sein.

Der wirtschaftliche Einsatz war nicht unerheblich. Die Männergruppe handelte im Auftrag von etwa 70 deutschen Türken, die sich nach der Tradition jeweils zu sieben Familien ein großes Opfertier, in diesem Fall ein Rind, teilten. Der Kameramann war bei der Schlachtung einer fast 100 Tiere zählenden Rinderherde zugegen (andere Gruppen in Nordrhein-Westfalen hatten ähnliche Aktionen unternommen), erzählte mir aber später, daß er während der Schächtung nicht gefilmt hatte. Man sah die Rinderherde und man sah die Verarbeitung der zerteilten Rinderhälften, aber man sah nichts dazwischen. Mein schwacher Magen, und sicherlich nicht nur meiner, war dem Kameramann zu Dank verpflichtet.

Einige der Reiseteilnehmer erzählten nicht ganz ohne Stolz, daß die den weißen Männern gegenüber mißtrauischen Afrikaner recht bald in den Türken Brüder gesehen hätten , die mit einer anderen Absicht als die alten Kolonialmächte zu ihnen gekommen waren. Man hätte immer wieder Distanz abbauen können, was einem durchschnittlichen Engländer auch heute noch in Afrika niemals möglich sei. Ich fand diese Eindrücke bemerkenswert, auch wenn sie mir manchmal ein wenig übertrieben dargestellt erschienen.
Einer der Teilnehmer erzählte mir später, in der türkischen Schule habe ein Lehrer einem der afrikanischen Kinder über den Kopf gestreichelt und das Kind sei danach weggelaufen. Die Nachforschungen des etwas erschrockenen Mannes ergaben, daß es voller Erstaunen seinen Eltern von der freundlichen Geste des Lehrers berichtet hatte. So etwas von einem weißen Mann zu erleben, war völlig ungewohnt. Ich bin solchen Geschichten gegenüber ein wenig skeptisch, sehe aber im Kern trotzdem einige völlig neue Chancen der internationalen Zusammenarbeit, wenn neue Länder Europas auch neue Wege zu den Herzen der Menschen in der Dritten Welt finden.

Die dann auftretende Musikgruppe Grup Akademi erwies sich als eine hochprofessionelle Zusammensetzung aus vier klassischen türkischen Instrumenten (Saz-Gitarre, Kanoun-Zither, Kemence-Kniegeige, Tef-Trommel) und einer westlichen Gitarre. Sie begleitete einen jungen Tenor, Harun Gürbüz, der später am Abend sich und die Mitglieder seiner Gruppe vorstellte. Sie alle waren Dozenten an verschiedenen Hochschulen, teilweise promovierte Leute. Durch die Gitarre wurden bewußt auch westliche Untertöne in die alten Lieder eingeführt.

Es waren Lieder, die im ersten Teil des Konzertes von dem mittelalterlichen Mystiker Mevlana Rumi und seiner unbändigen Gottesliebe handelten. Für einen Außenstehenden, sagte mir Nureddin, sei bei diesem Liedern nicht zu unterscheiden, ob sie von der Liebe zwischen Mann und Frau oder der Liebe zwischen Mensch und Gott handelten. In der Vorstellung von Rumi bildet die eine sich in der anderen ab.
Aber auch die melancholische Seite des Lebens wurde mit Leidenschaft besungen. Das Lied „Uzun İnce Bir Yoldayım“ (Ich bin unterwegs auf einem schmalen, langen Grat) des alevitischen Volkssängers Aşık Veysel beschreibt das Leben als einen Weg zwischen den zwei Türen (iki kapi), Geburt und Tod, zwischen denen der Mensch einen langen Weg gehen muß. Die Melodie wiederholt am Ende immer wieder, fast ersterbend "gündüz gece, gündüz gece...", Tag und Nacht, Tag und Nacht... Nureddin hat mir freundlicherweise den Text geschickt und übersetzt*.

Nach der Pause hatte der Sänger alte Volkslieder im Programm, die offenbar der ganze Saal kannte und mitsingen konnte. Es wurde das berühmte „Sari gelin“ (Blonde Braut) gesungen, das Lied einer unerfüllten armenisch-türkisches Liebe, und dann das endlos traurige „Yemen Türküsü“ (Das Jemenlied, „türkü“ heißt Lied, der übersetzte Text steht ebenfalls unten*). Es handelt von osmanischen Soldaten, die ohne Wiederkehr in den Jemen ziehen müssen, um die von den Engländern aufgestachelten Aufständischen zu bekämpfen. Wer im Westen mit Peter O’Tooles Film „Lawrence of Arabia“ aufgewachsen ist, lernt hier die melancholische Kehrseite des Krieges der Araber gegen die Türken kennen.

Bei dem neueren Lied "Ah Istanbul" von Sezen Aksu, welches die Stadt am Bosporus ähnlich verliebt beschreibt wie das "Paris violon, Paris violoncell" von Michel Legrand die französische Hauptstadt, sang auch der letzte Zuhörer im Saal mit. Es wurde vorher ins Publikum gefragt, wer aus Istanbul stamme. Es war niemand da. Ob sich jemand für einige Zeit dort aufgehalten habe, wurde gefragt. Ich hatte die Frage nicht verstanden, und so hob Nureddins Sohn Hamza meinen Arm in die Höhe, es war zusammen mit einem oder zwei anderen der einzige im Saal, und ich war natürlich nicht wenig stolz.

Am Ende des Konzertes hatte ich den Eindruck, an diesem Abend tief in das türkische Herz gesehen zu haben. Es war in seiner musikalischen Emotionalität und vorher in seiner hilfsbereiten Entdeckerfreude ein schutzloses Herz, ganz anders als das politische und kämpferische Herz, das uns die Medien gerne zeigen. Das Verständnis für unseren deutschen Türken wäre einfacher, wenn das Herz dieses schutzlosen Islam in unserer deutschen Öffentlichkeit mehr beachtet würde.

* Yemen Türküsü
Havada bulut yok bu ne dumandır Welcher Rauch ist das im wolkenloen Himmel
Mahlede ölü yok bu ne figandır Wieso dieser Geschrei im Viertel gibt es keinen Tod
Şu Yemen elleri ne yamandır Wie schwierig ist es im jemenitischen Land

Ah o yemendir gülü çimendir Ah es ist der Jemen dessen Rosen Gras ist
Giden gelmiyor acep nedendir Niemand kehrt zurück aus welchem Grund

Burası Huş’tur yolu yokuştur Das ist Hus sein Weg ist steil
Giden gelmiyor acep ne iştir Niemand kehrt zurück aus welchem Grund

Kışlanın önünde redif sesi var Vor der Garnisone hört man die Stimmen der Reservisten
Bakın çantasında acep nesi var Seht in seine Taschen was er wohl drin hat
Bir çift kundurayla bir de fesi var Ein Paar Schuhe und seinen Hut

Ah o yemendir gülü çimendir Ah es ist der Jemen dessen Rosen Gras ist
Giden gelmiyor acep nedendir Niemand kehrt zurück aus welchem Grund
Burası Huş’tur yolu yokuştur Das ist Hus sein Weg ist steil
Giden gelmiyor acep ne iştir Niemand kehrt zurück aus welchem Grund



Uzun İnce Bir Yoldayımvon Aşık Veysel

Uzun İnce Bir Yoldayım Ich bin unterwegs auf einem schmalen, langen Grat
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht
Bilmiyorum Ne Haldeyim Ohne zu wissen wie es mit mir steht
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht

Dünyaya Geldiğim Anda Seitdem ich auf der Welt bin
Yürüdüm Aynı Zamanda Bin ich in der selben Zeit gegangen
İki Kapılı Bir Handa In einem Haus mit 2 Türen
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht

Uykuda Dahi Yürüyom Selbst im Schlaf gehe ich
Kalmaya Sebep Arıyom Suche nach einem Grund fürs Bleiben
Gidenleri Hep Görüyom Ich sehe die Gehenden
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht

Kırk Dokuz Yıl Bu Yollarda 49 Jahre auf den selben Wegen
Ovada Dağda Çöllerde Im Tal auf dem Berg und auf der Wüste
Düşmüşüm Gurbet Ellerde Verschlagen habe ich mich in der Ferne
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht

Düşünülürse Derince Falls man tiefer denkt
Uzak Görünür Görünce Sieht der Weg aus als wäre es fern
Bir Yol Dakka Miktarınca Der Weg ist nicht mehr als eine Minute
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht

Şaşar Veysel İş Bu Hale Veysel wundert sich über das
Kah Ağlaya Kahi Güle Manchmal weinend manchmal lachend
Yetişmek İçin Menzile Um anzukommen zum Ziele
Gidiyorum Gündüz Gece Ich gehe tagsüber und in der Nacht




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