Montag, 31. Mai 2010

Pisi Pisi






Ich habe es irgendwo gelesen, ich glaube bei Peter Bamm, daß die Katzen von Istanbul auf besondere Weise die Geschichte der Stadt verkörpern. Ihre Population hier wurde im Gegensatz zu derjenigen der Menschen niemals ausgetauscht. Ihre Vorfahren gehen in gerader Linie auf die Katzen am Hof von Kaiser Justinian oder Kaiser Konstantin zurück.

In Türkisch werden die kedi, die Katzen nicht "Pussi" sondern Pisi gerufen, das klingt ganz ähnlich gel, pisi, pisi, komm, Pussi, Pussi. Die Liebe zu ihnen ist grenzüberschreitend.

Ob tief in den pisis noch eine Erinnerung schläft, daß man sie früher in griechisch angelockt hat?




Sonntag, 30. Mai 2010

Al Pacino Turco






Im Ägyptischen Basar mit seinen vielen Düften ist es schwer, den Kampf um die Nasen der Interessenten zu gewinnen. Hinter der Theke auf Kunden zu warten ist nicht jedermanns Sache, und so verwendet Al Pacino Turco sein hübsches Gesicht und zusätzlich jede Menge Fotos, die ihn mit Prominenten aus der ganzen Welt zeigen, um die Leute auf seinen Gewürzstand zu locken.

Seine Pistazien, von denen er mehrere Sorten anbietet, sind kaum billiger als Pistazien in Deutschland, es sei denn, daß man den Preis herunterhandelt. Aber wer handelt schon mit Al Pacino und riskiert es, mürrische Falten in seinem immer lachenden Gesicht zu erzeugen? Man lacht lieber mit und bezahlt gern, die Qualität (ich habe es probiert) ist ausgezeichnet.

Statt eines Nachlasses gibt es ein Foto mit Al, so eines wie mit dem Boxweltmeister Mike Tyson, wo der den schmalen Mann fast erdückt. Neben Al Pacino Turco aus dem Ägyptischen Basar ist am Ende jeder ein Star.


Das Spiel mit der Prominentenähnlichkeit ist in der Türkei offenbar beliebt. Nachdem ich unseren Mietwagenfahrer im Tavla (Backgammon) besiegt habe, sagt er feierlich, nun könne ich sagen ich hätte Richard Gere geschlagen. Die Ähnlichkeit ist tatsächlich vorhanden.









Auch unser Murat wird von unserem Fahrer einem Schauspieler zugeordnet, Kenan İmirzalıoğlu, ein umschwärmter Star aus einer Feierabend-Soap. Man urteile selbst.


Samstag, 29. Mai 2010

Dr. Erkan





Dr. Erkan Saka gehört nicht der Gülen-Bewegung an, den Besuch bei ihm habe ich Murat vorgeschlagen, und der hat gleich zugestimmt. Ich hatte Erkan vor unserer Istanbul-Reise 2007 über das Internet gefunden und dann besucht, er ist einer der aktivsten und interessantesten Blogger in der ganzen Stadt, sein englischer Blog wird täglich von hunderten von Leuten gelesen. Erkan hat in den USA studiert und dort auch seinen Doktor gemacht, in Anthropologie. Auf dem neuen Campus von Santral Istanbul, der seinen Namen von dem zentralen Elektrizitätswerk hat, das sich früher einmal hier befand und der zur Bilgi Üniversitesi gehört, ist er Assistenzprofessor und unterrichtet seine Studenten in Medienkunde.

Ich bin überrascht, daß er von den Unterschieden berichtet, die es weiterhin zwischen den alteingesessenen Istanbullus und den Einwohnern geht, deren unmittelbare Vorfahren aus Anatolien stammen. Obwohl sich beide Kreise mittlerweile weder in der Sprache noch im Verhalten voneinander unterscheiden, weiß man im Bekannten- und Freundeskreis sehr wohl noch von der jeweiligen persönlichen Geschichte und Abstammung. Natürlich weiß man auch, wer als frommer Moslem lebt und wer nicht, wobei eine anatolische Abstammung und eine konsequente Religionsausübung oft Hand in Hand gehen, es aber nicht müssen.
Spätestens im Ramadan wird jedenfalls der Unterschied deutlich, wenn der eine fastet und der andere trinkt und ißt. Erkan ist der einzige in der Fakultät, der den Ramadan einhält. Das grenzt ihn nicht aus, aber die Unterschiede sind unter den Kollegen zumindest bekannt.

Zu der Gülen-Bewegung hat er, wie ich aus früheren Gesprächen weiß, ein eher distanziertes Verhältnis. Wie viele ihrer Kritiker fürchtet er eine Art von Geheimbund, teilt auch sicherlich nicht alle Formen der strengeren Frömmigkeit Gülens, wie etwa die konsequente Abstinenz vom Alkohol. Aber ein Moslem möchte er sicherlich sein und sieht nach meinem Eindruck auch keinen Widerspruch darin, gleichzeitig mit dem zweiten Bein fest in der Welt der Wissenschaft und der modernen Kommunikation zu stehen.

Eine Leidenschaft erscheint mir an ihm besonders weltlich zu sein: seine Liebe zu Heavy Metal. Deren Bands sind momentan zu einem großen Festival in Istanbul versammelt, alles was in Heavy Metal Rang und Namen hat, ist in der Stadt. Mich hat es schon früher immer eigenartig berührt, im Blog von Erkan Hinweise auf wilde Bands wie "Lamb of God" zu finden. Ob ihm als Moslem bewußt ist, welchen langen, die Bedeutung verändernden Weg dieses Wort vom Lamm Gottes gegangen ist, wenn es Erkans Ohr in Istanbul erreicht?

Wie auch immer - Erkan ist Teil einer Welt, die sich auf eine für mich nicht immer leicht zu verstehende Weise auf die Suche gemacht hat und genau wie ich Gott finden will.




Freitag, 28. Mai 2010

Christos Pantokrator







Von den Byzantinern wird gesagt, sie hätten es wie kaum jemand vor oder nach ihnen verstanden, die absolute Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu kultivieren. Auf byzantinische Weise herrschen heißt, den Herrscher über alles zu erheben und den Untertan notfalls grausam in den Staub zu zwingen.

Es verwundert daher nicht, daß sich schon im Eingang der Hagia Sophia Jesus als Pantokrator, als Weltenherrscher wiederfindet. Im Obergeschoß der Kirche findet sich ein weiteres Porträt von ihm, das ihn näher und persönlicher zeigt. Ich betrachte es lange, es ist für mich das schönste und vollkommenste Portrait in der Hagia Sophia. Was die Frage der Herrschaft betrifft, so entzieht es sich der Unterscheidung von Herr und Knecht, von unten und oben. Man steht Auge in Auge mit einem Herrscher, der keinen Gehorsam verlangt sondern eher ein wenig gedankenverloren wirkt. Nach meinem Eindruck hat er die wehmütige Frage im Blick, ob der Betrachter weiß, durch welche Finsternis er, Jesus, hindurchgegangen ist, um am Ende dieser Kirche zum Glanz zu verhelfen.

Auch die machtbewußten Byzantiner konnten also nicht ganz in Vergessenheit geraten lassen, was die Bibel über den sanftmütigen König, den niedrigen Eselsreiter sagt. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, daran ändert auch alles Gold der Erde nichts, das man in die byzantinischen Kirchen trägt, um sie leuchten zu lassen.

Wunderbar ist der lebendige Hauch einer frischen Röte auf dem Gesicht Jesu. Von dem Punkt aus, von dem man das Mosaik betrachtet - der Kopf Jesu befindet sich etwa 3 m über dem Boden - verschwimmen die Farbpunkte der einzelnen Steinchen zu einem einheitlichen Bild mit feinen farblichen Übergängen. Man wundert sich über die Selbstverständlichkeit, mit welcher der Künstler über diese "Pixel"- Technik verfügte, deren mathematisch-physikalische Grundlagen er vermutlich kaum kannte.

Unten in der Kirche geht es ebenfalls um Pixel, allerdings in einer Anzahl, die um mehrere Zehnerpotenzen größer ist als die Summe aller Mosaiksteine der Kirche zusammen. Hier fährt eine nach Tausenden zählende Touristenschar ihre Ernte von gewaltigen Mengen Pixel-Gigabytes in die Speicher ihrer elektronischen Geräten ein. Sie werden morgen oder spätestens in wenigen Tagen über die ganze Welt verteilt sein und das Bild der goldenen Kuppel, die schwebt, als sei sie am Himmel aufgehängt, wie die Touristen der Antike staunend weitererzählten, in allen Ländern verbreiten.







Bruder Murat





Mit unserem Reiseleiter verbindet mich nicht nur die Liebe zu unserem jeweils angestammten Glauben, sondern auch die zur Philosophie. Beide haben wir, wie wir auf der Reise feststellen, in unserer Schulzeit in diesem Fach gute, prägende Lehrer gehabt, beide tragen wir noch Worte und Sätze aus dieser Zeit mit uns herum. Allerdings steht bei uns beiden der Glaube natürlich sehr hoch über allem menschlichen Denken. Es wundert mich deshalb nicht, daß Murat zunächst spontane Zustimmung äußert, als ich ihm die Geschichte* vom Brand der Bücherei in Alexandria erzähle.

Als Alexandria 642 durch den Kalifen Umar ibn al-Chattab für den Islam erobert wurde, soll dieser sogleich alle diejenigen Bücher der damals weltgrößten Bibliothek verbrannt haben, die dem Koran widersprachen – sie waren schädlich. Danach wurden aber auch die Bücher verbrannt, die ihm nicht widersprachen – sie waren überflüssig. So wurden am Ende alle Bücher ein Raub der Flammen.

Auch mein frommer Vater konnte gelegentlich so radikal und vereinfachend wie der Kalif Umar über fremde Bücher urteilen. Murat schränkt im Gespräch seine spontane Zustimmung zu dieser Radikalität zugunsten eines differenzierten Bildes ein: es gibt durchaus Bücher, die allein schon deshalb erhaltenswert sind, weil sie zum Leben und zur Kultur von Menschen gehören, die unsere Liebe und unsere Achtung verdienen.

Unsere Gespräche auf der Reise kommen immer wieder auf die Frage zurück, ob ein konsequentes Ausleben des Glaubens andere Gedanken und andere Handlungsweisen ausschließt. Murat ist sehr entschlossen in seinem Glauben und deshalb in seiner Jugendhaftigkeit manchmal nach meinem Eindruck auch eher ausgrenzend in Bezug auf alles, was sich diesem Glauben als Hindernis zeigen könnte.

Gleichzeitig ist er aber auch in dem Dialogverein, der unsere Reise veranstaltet, in vorderer Linie für das Gespräch mit Andersdenkenden zuständig. Vielleicht sollte er, sage ich ihm, so handeln, wie der marxistische Student, den ich um 1968 herum beim Lesen der damals als bürgerlich-liberal verschrieenen „Zeit“ antraf. Er entschuldigte sich: man müsse ja auch wissen, was der Klassenfeind liest.

Murat lacht, wenn ich ihm das erzähle. Je länger ich ihn kenne desto mehr sehe ich bei ihm einen Glauben, der ebenso wie meiner zwar von festen Ur-Geboten bestimmt wird, der sich aber im Alltag in Situationen bewähren muß, in denen Schwarz und Weiß nicht immer klar zu unterscheiden sind. Die moderne Welt macht es hier allen Fundamentalisten schwer, auch wenn die heutigen Menschen wie alle anderen vor ihnen nach einem Fundament suchen.

In dieser Suche nach festen Linien in der gauen Unübersichtlichkeit des Lebens ist Murat mein Bruder.

* sie wird auch in Wikipedia überliefert, dort aber als Legende geführt




Donnerstag, 27. Mai 2010

Sancta Maria





Beim Besuch in einer Moschee oder an einem heiligen Ort wie dem Grab von Eyyüp (Hiob) el-Ensari, dem Bannerträger des Propheten, gefallen 674 im ersten Kampf um Konstantinopel, müssen die Frauen unserer Gruppe Kopftuch tragen. Besonders schön sieht das bei einer jungen Dame aus unserer Gruppe aus, die ich bei solchen Gelegenheiten mit „Maria“ anspreche, denn einer Maria im Weihnachtskrippenspiel sieht sie mit ihrem Kopftuch ähnlich, außerdem ist sie katholisch. Die Wirkung ihres schon von Natur aus sehr hübschen Gesichtes wird durch das Kopftuch noch verstärkt.

Diese Beobachtung unterstreicht meine These, wonach die Muslime mit ihrem Kopftuchgebot gar nicht das erreichen, was sie wollen, nämlich eine Eindämmung der weiblichen Reize. Oft ist nach meinem Eindruck das Gegenteil der Fall.

Man findet für Thesen wie diese bei frommen Muslimen durchaus ein offenes Ohr und kann sich dann auch ein wenig kontrovers mit ihnen auseinandersetzen. Dazu ist es gut, wenn man sich untereinander kennt und das gelegentliche Augenzwinkern, das zu einem solchen Diskussionsstoff gehört, nicht vergißt.

Man erfährt dann gerade von den frömmeren unter ihnen einen zweiten Grund für das Befolgen göttlicher Gebote, und der besteht nicht im vordergründigen Nutzen der Gebote (etwa, daß der Verzicht auf Schweinefleisch gesund ist), sondern in einer Art von einfachem Prinzip: wenn Gott es so gebietet, ist es gut! Er mag anordnen, was er will, die Hauptsache ist, daß er unser Handeln prüft und die Liebe und Ehrfurcht findet, die wir ihm schulden.

Dieser Gedanke ist nicht exklusiv islamisch, er findet sich auch in der Bibel. Viele Vorschriften des Alten Testamentes sind nicht sogleich einleuchtend und Nutzen stiftend – etwa die Vorschriften über Quasten (4. Mose 15,38), die der fromme Jude an seinen Kleidern tragen soll. Der einzige Nutzen solcher und ähnlicher Gebote besteht möglicherweise darin, daß der Mensch im Ablauf des Tages immer wieder praktisch und sinnfällig an den Gott erinnert wird, dem zu dienen er sich verpflichtet hat.

So bewirkt das Kopftuch also möglicherweise am Ende gar nicht so sehr den Schutz der Frau vor den gierigen Blicken der Männer. Vielleicht soll es vielmehr beide, Mann und Frau, daran erinnern, daß es über ihnen beiden etwas Höheres gibt, eine Instanz, vor deren Augen sie beide leben und in deren Dienst sie stehen.

Die Maria der katholischen Kirche gehört ebenfalls in diese Tradition. Die Mutter Jesu ist für Katholiken die dienende Magd, sie ist in erster Linie gehorsam, sie tut das ihr aufgetragene klaglos, auch wenn sie es nicht versteht. Im Ergebnis ermöglicht sie dadurch die Existenz des Göttlichen mitten unter den Menschen.



Mustafa Hoca





Der Lehrer (Hoca) Mustafa ist stellvertretender Direktor einer achtklassigen Grundschule in Çanlıca und als solcher zuständig für die letzten beiden Schuljahre. Seine Schule im asiatischen Teil Istanbuls ist die Stiftung eines reichen Mannes, der seinen Kindern in der Nachbarschaft seiner eigenen Villa acht gleiche Häuser errichten ließ, die er später der Gülen-Bewegung schenkte, nachdem (aber das ist nur meine Vermutung) die Kinder lieber in die Welt hinausgezogen sind als unter den Fittichen des Vaters zu leben.

Wer in dieser Schule als Lehrer arbeiten will, sagt Mustafa Hoca, muß durch mehr motiviert sein als den wirklich atemberaubend schönen Blick, den man hier, wenig unterhalb der Kuppe des hohen Çanlıca-Berges hinunter auf den gesamten südlichen Teil des Bosporus mitsamt Europabrücke, Alt-Istanbul, Marmarameer und Prinzeninseln hat. Man muß bereit sein, über die reguläre Unterrichtszeit hinaus mit den Kindern zu arbeiten, ihre familiären Verhältnisse durch Hausbesuche kennenzulernen und vieles mehr. Belohnt wird man durch gute Arbeitsbedingungen und die Mithilfe engagierter Eltern, die ein Schulgeld bezahlen müssen (etwa € 10.000,- pro Jahr, darin ist das Essen eingeschlossen, Stipendien sind möglich), sowie durch die Hilfe externer Förderer, die sich mit einer amerikanisch anmutenden Spendermentalität am Aufbau solcher Schulen beteiligen.



Die Häuser der Schule, je ein großzügiges Einfamilienhaus pro Jahrgang, stehen im Karree um eine zentrale Sportanlage, die mit ihrem Basket- und Fußballfeld und den Trampolins auch zu einer modernen Hotelanlage gehören könnte. Die Kinder in ihren nach Jahrgang unterschiedlichen T-Shirts spielen fröhlich darin herum, es herrscht eine lockere Atmosphäre, hinter der ein gewisses Maß an Disziplin steckt, denn offenbar schlägt hier niemand über die Stränge.

Fethullah Gülen, den seine Anhänger vornehmlich wegen seiner fast mystischen Frömmigkeit verehren, hat, für einen Christen überraschend, dazu aufgerufen, keine neuen Moscheen sondern neue Schulen zu bauen. Er ist sich sicher, daß man über eine Erneuerung der Bildung in der islamischen Welt auch eine Erneuerung des Glaubens fördert. Er erwartet ein frommes 21. Jahrhundert mit einem weltweit erneuerten Glauben. In diese optimistischen Visionen schließt er die Christen mit ein.




Mittwoch, 26. Mai 2010

Bilal das Kind





Bilal ist ältestes Kind der freundlichen Familie, die unsere Gruppe ganz uneigennützig und ohne uns zu kennen zum Abendessen eingeladen hat. Er lebt mit seinen Eltern und seinen zwei jüngeren Schwestern in einem Hochhaus mit neun Geschossen und 36 Wohnungen im Stadtteil Ümraniye auf der asiatischen Seite. Bilal ist elf Jahre alt und besucht die sechste Klasse der Grundschule. In zwei Jahren will er zum Gymnasium wechseln (hier in der Türkei bleiben die Kinder acht Jahre in einer gemeinsamen Grundschule zusammen), nach weiteren vier Jahren soll er dann Abitur haben, inschallah. Ich mache mir um diesen klugen und ernsten jungen Mann diesbezüglich keine Sorgen.

Bilal lernt im dritten Jahr Englisch und im ersten Jahr Deutsch, das er einfacher findet und mehr liebt als Englisch. Die Mutter winkt ab, das sei ein Problem des ögretmen, des Lehrers. Den Deutschlehrer findet er sympathischer, deshalb hat er zum Deutschen einen besseren Zugang. So also können im Leben die Weichen für Zu- und Abneigung gegenüber ganzen Nationen gestellt werden...

Bilal spricht beide Sprachen so, als ob, um ein Wort meines Vaters aus dessen eigenem Erleben zu benutzen, die Lehrer die Sprachen erfunden hätten, um Kinder damit zu quälen. Offenbar sind sie reine theoretische Gebilde für ihn. Erst später am Abend taut Bilal etwas auf, und beginnt Englisch als etwas zu benutzen, das ihn und mich verbindet (wobei ich versuche, mit meinem rudimentären Türkisch Hilfestellung zu geben). Wie so oft bildet der Fußball die Brücke, die Welten verbindet. "World Champion, Football, Africa?" - "Germany: no, Spain: yes!" Der Junge hat leider Sachverstand...

Der Vater ist Chemiker und Eigentümer einer Firma, die im Baugewerbe tätig ist. Er ist seit vielen Jahren Anhänger der Gülen-Bewegung, hat seine Freunde dort, mit denen er sich wöchentlich zu einer Art Hauskreis, Sohbet, trifft, Reisen unternimmt und unter armen Leuten Gutes tut. Er ist über den wirtschaftlichen Aufschwung um ihn herum weder besonders stolz noch verbindet er weltpolitische Gedanken mit dem zunehmenden Gewicht der Türkei. Geschäfte mit dem Ausland? Seine Arbeit ist hier vor Ort. Allerdings berichten ihm seine Freunde von wachsendem Interesse an Afrika, das die früher einseitige Orientierung nach Europa aufzuweichen beginnt. Ob sein Sohn nicht besser etwas Anderes lernen soll als Englisch und Deutsch? Nach längerem Überlegen sagt er, vielleicht wird Russisch und Chinesisch in Zukunft interessanter. Arabisch? hake ich nach. Das wohl eher als Sprache für die Pilgerfahrt.

Das Foto oben zeigt Bilal mit seinen Schwestern Betül, 7 und Rana, 9 Monate.

Am Ende übergeben wir ein schönes Solinger Nageletui als Gastgeschenk. Wir bekommen nach türkische Sitte eine Dose mit Süßigkeiten auf den Weg, der Gast ist nicht nur zu bewirten, sondern auch durch Geschenke zu ehren. Im Herausgehen kommt Bilal noch einmal zu mir und hat eine kleine mittelalterliche Kanone als Schüsselanhänger in der Hand. Çok güzel, sehr schön, sage ich, aber seine Handbewegung sagt: es ist sein zusätzliches Gastgeschenk an mich. Gerührt verlasse ich das freundliche Haus.



Dienstag, 25. Mai 2010

Tante Olga





Auf der Istiklal Caddesi, der großen Einkaufsstraße im alten Pera, dem nördlichen, vor 1453 von den Genuesern bewohnten Teil Istanbuls, ist im Riesenstrom der Menschen eine bestimmte Art von Künstlern wie auf kleinen Inseln zu finden, die man auch aus den Fußgängerzonen anderer europäischer Großstädte kennt. Die Indios aus Bolivien singen wie in Düsseldorf El Condor pasa, eine Violinistin spielt wie in Amsterdam Mozart, ein Sas-Spieler ergänzt die Weltmusik mit einheimischen Klängen. Als akkustischer Höhepunkt läßt eine füllige Russin, die für mich Tante Olga heißt und eine große Opernstimme hat, die bekannten Lieder von Kalinka bis Stanka Rasin weithin hörbar erschallen.

Warum erinnert mich ihr zweifellos in vollkommenem Russisch vorgetragener Gesang an die Abende mit meiner Schwester Esther, bei denen wir die alten Lieder sangen und wo wir Esther auf dem Höhepunkt der Nostalgie, bei Those were the days my friend, niemals lange bitten mußten, bis sie eine Strophe in ihrem selbst erfundenen Russisch sang? Ich glaube, es waren die operettenhaften Bewegungen von Tante Olga, die meine Schwester in gleicher Weise imitieren kann, die roten Haare, die - Esther, verzeih den völlig unangemessenen Vergleich! - überschüssigen Pfunde.

Die Türken standen eher erstaunt vor diesem akkustischen Vulkan, der ihre sensiblen Ohren sicherlich überforderte, und warfen schüchtern ihre Münzen in den bereitgestellten Korb, gerade so, als ob man dadurch Schlimmeres verhüten könnte.

Ich rief Esther an und ließ sie ein paar Takte teilhaben am strahlenden Gesang ihrer Kollegin. Esthers Lachen übertönte in meinem Ohr alles, was von der lauten Tante Olga auf der Istiklal Caddesi zu hören war.



Montag, 24. Mai 2010

Cemal Bey





In der eleganten Zentrale der Journalisten- und Autorenstiftung in Üsküdar auf der asiatischen Seite Istanbuls erklärt uns ein in England ausgebildeter Mitarbeiter in feinem Oxford-English wie die Gülen-Bewegung sich unter der schreibenden Zunft verbreitet hat. Man habe in den 70er und 80er Jahren ein in mehrere tödlich verfeindete Gruppen geteiltes Land vorgefunden, habe Kämpfe zwischen Rechts und Links, Fundamentalisten und Säkularisten gesehen, blutige Auseinandersetzungen, die tausenden von Menschen das Leben gekostet hatten. In dieser Situation hat Fethullah Gülen dazu aufgerufen, Begegnungszentren der Versöhnung zu schaffen, von denen die Stiftung, bei der wir heute zu Gast sind, eins der ersten war. Andere sind gefolgt.

Cemal Uşak, ein im Ruhestand lebender Journalist, Vizepräsident dieser Stiftung kommt hinzu und erzählt uns, ebenfalls in gutem Englisch, weitere Einzelheiten des mittlerweile auch andere Länder umfassenden Versöhnungswerks - so etwa, wie man in Ägypten säkulare Journalisten und die (hier zunächst sehr zögerlichen) Moslembrüder zu einer gemeinsamen Konferenz eingeladen hat. Mittlerweile habe es eine ganze Reihe solcher Konferenzen gegeben, der Friede ist gewachsen.

Mich erinnert das alles ganz stark an die friedensstiftende Arbeit der Leute um das amerikanische Prayer Breakfast. Auch sie haben in einer Krisensituation, einem verbittert geführten Arbeitskampf in Seattle, die verfeindeten Parteien zusammen eingeladen, nicht zu Verhandlungen zu den konkreten Themen, sondern zum gemeinsamen Essen, zu einem gemeinsam gelesenen Bibelwort, einem Gebet.

Am Ende frage ich den milde und freundlich redenden und darin seinem Vorbild Gülen ähnlichen Cemal Bey, was er in einem solchen weltweiten Dialog einem christlichen Freund als bewahrenswerte Essenz seines eigenen, christlichen Glaubens ans Herz legen würde. Er überlegt lange, berät sich in Türkisch mit Mustafa Erol, dem Oxford-Mann, und läßt diesen am Ende an seiner Stelle antworten: die Stärke des Christentums ist sevgi, die Liebe, die Stärke des Islams ist adalet, die Gerechtigkeit, wenn beide Religionen konsequent für das ihre einstehen, ist es um die Welt besser bestellt.

Ich empfinde es als schön und ermutigend, von einem Moslem zu erfahren, daß er offenbar dieses essential der christlichen Lehre für weiterhin lebendig hält und mit Hoffnung zu uns hinüber und auf unseren Glauben sieht.







Am Ende gibt es auch materielle Geschenke.



Sonntag, 23. Mai 2010

Onkel Ismet






Onkel Ismet ist im Jahre 1961 von Anatolien nach Istanbul gekommen, da war er 17. Etwas später ist sein etwa gleichalter Neffe Kemal, Zekiyes Vater, nach Neuß im Rheinland ausgewandert. Beide Männer beziehen mittlerweile ihre Rente, aber Onkel Ismet, als der unruhigere der beiden, geht weiter für ein paar Stunden am Tag arbeiten und bedient wie früher, als er auf der asiatischen Seite ein Restaurant besaß, Gäste. Heute tut er es in einem Teehaus im Schatten der großen Yeni Cami, der Neuen Moschee, unten an der Galatabrücke, die über das Goldene Horn führt.

Nur ein paar Zufälle - einmal war es die Geburt seines ersten Kindes - haben es verhindert, daß er wie eigentlich geplant ebenfalls nach Deutschland ausgewandert wäre. Er ist offenbar zufrieden damit, sein Leben hier in Istanbul gelebt zu haben. Was in Deutschland für ihn besser, was schlechter gewesen wäre? Er zuckt die Achseln.

Wie sein Neffe (und wie ich) hat er Probleme mit dem Herzen, und spätestens als er von seinen zwei Stents erzählt und ich ihm von meinen beiden, weiß ich, daß ich den Tee auf meinem Tisch gleich nicht bezahlen muß. Herzpatienten haben Brüder auf der ganzen Welt.

Er führt seine Gesundheitsprobleme auf fettes Fleisch zurück und hat sich eine Diät verordnet, die ihn angenehm schlank macht, das hat er mir voraus. Auch den Alkohol meidet er seit einigen Jahren, da spielt aber eine späte Hinwendung zum Islam wohl die wichtigere Rolle. Bei mir käme ja wohl noch das Fleisch "dieser Tiere" hinzu, wie mir Murat übersetzt, das wäre natürlich auch schlecht fürs Herz.


Ob seine deutschen Verwandten Zekiye und Murat, die Almancıs, noch gut Türkisch sprechen? Murat übersetzt meine Frage und auch die Antwort: der Onkel lacht und sagt zu mir "wie Du!" Das ist das schönste Kompliment, das ich für meine paar Brocken Türkisch je bekommen habe, auch wenn es natürlich vollkommen übertrieben ist.



Freitag, 21. Mai 2010

Meine 14 Jahre mit der Bombe





Am vergangenen Dienstag (18. Mai) wurde in der Innenstadt von Remscheid eine Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft, der Remscheider General-Anzeiger berichtete. Am Ort des Geschehens konnte ich heute im Gespräch mit dem Friedhofsgärtner Wörner, dessen Bagger auf die Bombe gestoßen war, Einzelheiten des Fundes erfahren und mir auch den genauen Fundort zeigen lassen.

Er liegt etwa auf der Mitte des obigen Luftbildes (grüner Pfeil) und nur 70 m von dem Haus Nordstr. 76 (mit A gekennzeichnet) entfernt, in dem ich bis 1963 gelebt habe. Die Bombe schlummerte 67 Jahre lang genau gegenüber von unserem Haus, so daß wir als Kinder aus dem Fenster immer auf den Bereich geschaut haben, wo man sie jetzt gefunden hat. Der Friedhof liegt etwas höher als das Haus und wird durch eine große Stützmauer abgefangen. Die Bombe hätte unser Haus vermutlich ab dem 1. Obergeschoß abrasiert.

Treffen sollte sie meinen Großvater Adolf Runkel senior und seine Frau Lieschen, im Jahre 1943 und zwar auf perfide Weise: die Bombe war mit einem Zeitzünder versehen, der sich erst einige Stunden nach der Welle der Spreng- und Brandbomben aktivieren sollte, die am späten Abend des 31.7.1943 hier in dem großen Angriff der Engländer auf Remscheid niedergingen und das Haus des Opas (Nordstr. 82) zerstörten. Sie hätte die Großeltern also beim Aufräumen getroffen.

Es ist allerdings nicht klar, ob die beiden damals etwa 50jährigen Großeltern in der Bombennacht, in der sie nach der Familienlegende eine große Zahl Häuser verloren, in Remscheid waren. Sie hatten eine kleine Ferienhütte auf dem Land, in Friedenberg bei Dhünn, und lebten während des Krieges teilweise dort.

Schwester Esther steuerte eine Geschichte bei, die sich tags darauf zugetragen haben soll, als die Großeltern kamen, um den Schaden zu besehen. Die Oma wäre offenbar gerne in das zerstörte Haus gegangen wäre, um ihr Kirschbaum-Herrenzimmer, ein Erbstück ihres Vaters, zu retten. Das soll ihr der Großvater mit den Worten "Geh nur. Ich werde dann meinen Söhnen erzählen müssen, daß ihre Mutter in dem zusammengestürtzten Haus ums Leben gekommen ist." ausgeredet haben. Die drei Söhne waren damals alle als Soldaten im Krieg.

Mir kam eine andere Erinnerung: der Keller von Haus 82 war in der Bombennacht stehengeblieben und diente nach dem Ende des Krieges der Familie H. aus Ostpreußen lange Jahre als Notunterkunft. Auf dem Keller entstand etwa 1947 unser sogenanntes "Kleines Häuschen" als Behelf, in das hinein zuerst ich (1949) und dann meine Schwester Sigrid (1950) geboren wurden und in dem wir das im Keller gesprochene Ostpreußisch mit der Muttermilch aufnahmen und zu imiteren lernten.

In diesem Keller war, so erzählte mein Vater, nach der Bombennacht als einziges Gut im Hause die Reihe der vollen Einmachgläser noch komplett unversehrt, was von meinem Vater, der das Eingekochte nicht liebte, als große Ungerechtigkeit des Schicksals empfunden wurde: warum macht das Unglück ausgerechnet vor dem weniger Begehrlichen halt?

Es gab weitere Geschichten um das zerstörte Haus Nordstr. 82. Es ging um Vaters reichhaltiges Spielzeug und um seine große Briefmarkensammlung, so wurde uns jedenfalls erzählt. Fast konnten wir damals meinen, wir hätten als Kinder einen ganz anderen Start ins Leben gehabt, wenn das alles unzerstört geblieben wäre.

Auf den Trümmern von Haus 82 entstand 1952 eine ganze Hauszeile, von denen die Häuser 76 – 86 heute noch im Besitz von Verwandten sind. Meine Eltern, seit 1948 verheiratet, haben mit unserer wachsenden Familie zunächst in dem behelfsmäßig errichteten "Kleinen Häuschen" auf den Trümmern von Haus 82 und dann ab 1952 in dem Mehrfamilienhais Nordstr. 76 gelebt, bis 1963. Das sind also bei mir 14 Jahre mit der Bombe.

Ich füge ein Foto vom Friedhof bei. Man sieht am unteren Ende des Gräberfeldes zwei blumengeschmückte neue Gräber und hinten das Dach der Nordstr. 76.


Im rechten der beiden neuen Gräber lag die Bombe - vor Erschütterungen zunächst sicher, weil in diesem Bereich ursprünglich ein Grünstreifen war. Die neuen Gräber wurden erst kürzlich parzelliert.






Freitag, 7. Mai 2010

Bilder vom Familienwochenende




Schiedungen am Harz, 16. bis 18. April



Familientreffen auf einem alten Bauernhof, den wir, als einzige Feriengäste, ganz für uns alleine hatten.













Koordinaten: 51.523114,10.583997



Carolin, Christina, Judith (die am 17. Geburtstag hatte), Matthias, Eva.




Johannes und Judith, Manuel und Eva, Sören und Carolin



David und Christina, Matthias, Vanessa (nicht mit dabei, im Abitur)


























Ruine Kloster Walkenried












Schiedungen


























Sören, David, Carolin, Christina, Johannes, Judith, Matthias, Eva (Manuel mußte früher weg wegen eines Auftrittes, Vanessa wie erwähnt in Abiturvorbereitungen in Remscheid)